Bocksprung trotz heiliger Kühe

Indien und Estland könnten kaum unterschiedlicher sein. Eines jedoch haben die Länder gemeinsam: Beide setzen auf E-Government, um ihre Verwaltungen effizienter und transparenter zu machen.

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Von
  • Christian Buck

Dieser Text ist der Print-Ausgabe 12/2009 von Technologie Review entnommen. Das Heft kann, genauso wie die aktuelle Ausgabe, hier online portokostenfrei bestellt werden.

Indien und Estland könnten kaum unterschiedlicher sein. Eines jedoch haben die Länder gemeinsam: Beide setzen auf E-Government, um ihre Verwaltungen effizienter und transparenter zu machen.

Bürokratie als Arbeitsbeschaffungsmaßnahme: Selbst kleine Firmen in Indien beschäftigen oft einen Angestellten, der nur fürs Schlangestehen und den zermürbenden Kontakt mit den Behörden zuständig ist. Beides kann in dem aufstrebenden Subkontinent nämlich leicht einen ganzen Tag dauern. Und weil die zahlreichen Staatsdiener – allein die staatliche Eisenbahn hat rund anderthalb Millionen Angestellte – schlecht bezahlt sind, geht ohne Schmiergeld häufig nichts. Darunter leiden nicht nur die Einheimischen, sondern auch Investoren aus dem Ausland.

Der Bundesstaat Andhra Pradesh versucht seit 2001, die ineffiziente und korrupte Verwaltung auf Trab zu bringen – mit E-Government. "eSeva" heißt das Pilotprojekt, das mithilfe moderner IT mehr Transparenz in die Behörden bringen soll. Die Bürger können sich im Internet einloggen und Rechnungen oder Steuern online bezahlen. Wer weder Computer noch Internetzugang hat, kann eines von 62 Büros aufsuchen, wo ihm Angestellte bei der Abwicklung helfen. Die sind aber nicht beim Staat beschäftigt: eSeva wird von einem privaten Anbieter betrieben, der für jede Zahlung eine Provision bekommt. Und für ihn gelten strenge Regeln: Muss der Kunde mehr als 15 Minuten warten, gibt es nur die halbe Provision. Überschreitet die Wartezeit 30 Minuten, bekommt der Dienstleister gar nichts.

Die indische Bundesregierung hat diese und weitere Initiativen aufgegriffen und Mitte 2006 einen nationalen Plan für das E-Government beschlossen, für den innerhalb von sechs Jahren sieben Milliarden Dollar ausgegeben werden sollen. Experten sprechen von "Leapfrogging" (Bockspringen), wenn sich eine Gesellschaft auf solch sprunghafte Weise verändert.

Die Vision hinter dem Projekt: Alle Dienstleistungen sollen den Menschen in der Nähe ihres Wohnortes angeboten werden – transparent, zuverlässig und zu bezahlbaren Kosten. Das ist ein hehres Ziel in einem Land, wo die Menschen bislang oft einen ganzen Tag brauchen, um nur das zuständige Amt zu erreichen.

Um näher zu ihren Kunden zu kommen, will die Regierung 100.000 Servicecenter in den rund 600.000 Dörfern des Landes einrichten, 54.000 davon arbeiten bereits. Dort erhalten die Menschen amtliche Bescheinigungen wie Geburtsurkunden, außerdem können sie Stromrechnungen bezahlen oder Eisenbahntickets kaufen. Auch diese Zentren werden nicht von Staatsdienern betrieben, sondern von Dorfbewohnern, die ihren Kunden neben öffentlichen Diensten (zum Beispiel Grundbuchauszügen) auch privaten Service wie etwa Internetzugang anbieten.

Noch ist es zu früh, Bilanz zu ziehen – aber die Erfahrungen mit eSeva zeigen, dass E-Government in Indien das Leben der Menschen tatsächlich verbessern kann. "Software, Hardware und Netzwerke haben seit Beginn zuverlässig gearbeitet und waren zu 99,6 Prozent verfügbar", stellte das Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen, UNDP, fest. "Die Regierung, die privaten Betreiber und die Nutzer sind alle Gewinner bei diesem Projekt."

Um auch die hinter den "Front Offices" stehende Verwaltung auf den neuesten Stand zu bringen, investiert Indien landesweit in moderne IT-Infrastruktur: Schnelle "State Wide Area Networks" (Swan) vernetzen die Regierungsstellen auf der Ebene der Bundesstaaten: Sie versorgen die 6000 regionalen Verwaltungen mit mindestens zwei Megabit pro Sekunde, während die Anlaufstellen in den Dörfern drahtlos ans Netz angebunden werden. Daten und IT-Prozesse für Verwaltungsvorgänge auf der Ebene eines Bundesstaates sind in "State Data Centers" (SDC) untergebracht, zum Beispiel das Verzeichnis aller Autos und die Software zum Ausstellen von Führerscheinen. "Rund die Hälfte der 28 indischen Bundesstaaten und sieben Unionsterritorien sind bereits mit den Swans ausgestattet, und die SDCs werden gerade eingerichtet", berichtet Joan McCalla von Cisco Systems. Das Unternehmen ist in Indien am Aufbau zahlreicher Swans beteiligt.

Und weil sich Mobiltelefone in Indien rasant ausbreiten – das Wachstum liegt bei mehr als zehn Millionen pro Monat –, sollen auch sie in Zukunft für die Verwaltung eingespannt werden: Einerseits als Informationsquelle (zum Beispiel wenn es um den Stand eines Antrages geht), andererseits auch für Transaktionen. Die Behörden geben sich fest entschlossen, technologisch mit einem großen Schritt einige Jahrzehnte aufzuholen.

Estland hat schon mehrere solche "Bocksprünge" hinter sich, und darum gilt der baltische Staat auch als Musterknabe in Sachen E-Government. Seit seiner Unabhängigkeit im Jahr 1991 hat das Land konsequent die Vorteile der Informationstechnologien genutzt, um seine Verwaltung zu modernisieren: So sind fast alle Arbeitsplätze der estnischen Regierung über Breitbandanschlüsse mit dem Internet verbunden, und die Bürger haben schon seit 1998 über ein zentrales Web-Portal Zugriff auf Informationen zur Regierungstätigkeit. Kein Wunder, dass das IT-verliebte Völkchen seinen Landesnamen gern mal in "E-stonia" abwandelt. Anders als beim riesigen Indien kam der estländischen Regierung bei ihrer E-Government-Initiative auch ihr übersichtliches Staatswesen zugute: Das Land hat rund 1,3 Millionen Einwohner, etwa so viele wie München.

Grundlage der E-Government-Dienste ist eine ID-Karte, die 2002 landesweit eingeführt wurde. Mit ihr und einem Kartenlesegerät am Computer können sich die Bürger im Internet ausweisen und rechtsverbindlich digital unterschreiben. Umgekehrt sind alle Behörden verpflichtet, derart signierte elektronische Dokumente zu akzeptieren. Der Chip auf der ID-Karte enthält zusätzlich zu den persönlichen Daten seines Besitzers auch ein Zertifikat zur Authentifizierung und eine permanente E-Mail-Adresse für die Kommunikation mit der Verwaltung. Neben der ID-Karte können die Estländer aber auch ihren Zugang zum Online-Banking nutzen, um auf die Dienste der Verwaltung zuzugreifen: Sind sie erst einmal auf der Website ihrer Bank eingeloggt, führt sie ein Link zu den Angeboten der Behörden.

Das intelligente ID-Kärtchen kann auch anderen Zwecken dienen, etwa als Ausweis für den öffentlichen Nahverkehr. Die Kunden haben die Möglichkeit, ein "virtuelles Ticket" zu kaufen, das mit ihrer ID-Karte verknüpft ist. Der Kontrolleur steckt die ID-Karte in ein Lesegerät und kann so prüfen, ob der Fahrgast schwarz fährt. Auf dem Weg in eine IT-basierte Dienstleistungsgesellschaft sei das in Estland "eine Killerapplikation" gewesen, sagt Franz-Reinhard Habbel vom Deutschen Städte- und Gemeindebund. "So etwas sieht der elektronische Personalausweis in Deutschland leider nicht vor, weil aus Sicherheitsgründen keine externen Informationen darauf gespeichert werden dürfen."

In Estland waren die Banken die Motoren des Online-Fortschritts. Schon 1996 führten einige Kreditinstitute das Internet-Banking ein – von den rund 20 Ende 1996 weltweit angebotenen Internet-Banking-Diensten kamen drei aus Estland. Weil es dort damals noch keine leistungsfähige Software-Industrie gab, mussten die Banken eigene IT-Expertise aufbauen. Das machte sie später zur treibenden Kraft, auch beim E-Government – zum Beispiel beim Aufbau einer Public-Key-Infrastruktur. Damit lassen sich Dokumente verschlüsseln und digital signieren.

Im Oktober 2005 schrieben die Estländer Geschichte, weil sie – weltweit einmalig – bei den landesweiten Kommunalwahlen auch online abstimmen konnten. Für das "E-Voting" mussten sich die Stimmberechtigten an einen Computer setzen, ihre ID-Karte in ein Lesegerät stecken und die Webseite zur Wahl ansteuern. Dort wurden die Kandidaten aufgelistet, ein Mausklick und die Eingabe einer PIN-Nummer genügten zur Stimmabgabe. Allerdings nutzten damals nur knapp 10ˇ000 Menschen das Angebot. Bei der Parlamentswahl 2007 waren es bereits rund 31000 Online-Stimmen; die Wahlbeobachter der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) haben diese Wahl aufmerksam begleitet und der estnischen Regierung einige Änderungen empfohlen, etwa um die Sicherheit der Auszählung elektronischer Stimmen zu erhöhen und mögliche Mängel bei der Anonymität der Stimmabgabe auszuräumen. Bei der Europawahl 2009 wählten schließlich bereits 60000 Estländer online. Der Wahlbeteiligung hat das allerdings nicht geholfen: Sie lag bei mageren 43 Prozent. (bsc)