Chemischer Blick ins Hirn

Mit einem neuen Sensorsystem wollen Forscher die Elektrochemie des Gehirns besser verstehen und die Behandlung von Neuroerkrankungen durch tiefenstimulierende Elektroden feiner steuerbar machen.

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Von
  • Emily Singer

Mit einem neuen Sensorsystem wollen Forscher die Elektrochemie des Gehirns besser verstehen und die Behandlung von Neuroerkrankungen durch tiefenstimulierende Elektroden feiner steuerbar machen.

Im vergangenen Jahrzehnt hat sich die Tiefenstimulierung des Gehirns mit Hilfe von Elektroden zu einem wichtigen medizinischen Werkzeug entwickelt. Über 75.000 Patienten sind damit gegen Parkinson und andere Krankheiten behandelt worden. Dennoch weiß die Wissenschaft noch immer nur wenig darüber, was bei dieser Behandlung im Gehirn wirklich passiert.

Ein implantierbarer Sensor, der zurzeit in Tierversuchen getestet wird, soll dies nun ändern: Er registriert chemische Signale, die eine elektrische Stimulierung hervorruft. „Die Neurochirurgie hat sich mit dem Gehirn lange Zeit ausschließlich hinsichtlich der elektrischen Zustände beschäftigt“, bemängelt Nader Pouratian, Neurochirurg an der Universität von Kalifornien in Los Angeles. „Mit diesem Sensor können wir das Gehirn als elektrochemisches Organ betrachten und die Wirkung einer Tiefenstimulierung besser nachvollziehen.“

Im herkömmlichen Verfahren wird einem Patienten eine kleine Elektrode ins Hirn eingepflanzt. Während der Operation ist er wach, damit die Chirurgen die richtige Stelle und das passende Maß an Stimulierung finden können. Bei Parkinson-Patienten etwa nimmt das Muskelzittern augenblicklich ab, wenn über die Elektrode ein Signal abgegeben wird. Was dabei im Kopf abläuft, ist jedoch umstritten. Klarheit könnte hier eine Messung der Neurotransmitter schaffen, die das Hirn ausschüttet. Dann könnten Chirurgen die das Verfahren optimieren.

Das neue Verfahren verwendet deshalb eine Sensorelektrode, die zusammen mit der stimulierenden Elektrode eingepflanzt wird. Dazu kommen ein Mikroprozessor, ein Bluetoothsender für die Datenübertragung und eine Batterie. „Auf diese Weise können wir die Konzentration von Dopamin und Serotonin in Echtzeit aufzeichnen – drahtlos“, sagt Kendall Lee, Neurochirurg an der Mayo Clinic in Rochester, der das Gerät mit entwickelt hat. „Wir können damit die Chemie des Gehirns erstaunlich gut steuern.“

Um die Neurotransmitter aufzuspüren, wird an der Sensorelektrode eine geringe Spannung angelegt. Dadurch werden Dopamin-Moleküle in der Nähe der Elektrode oxidiert, was sich in einem Stromfluss niederschlägt. „Die Stromstärke zeigt dabei die Konzentration an“, erläutert Kevin Bennet, Abteilungsleiter für Medizintechnik an der Mayo Clinic, der mit Lee zusammenarbeitet.

Erste Untersuchungen an Schweinen haben ergeben, dass eine Tiefenstimulierung in der Hirnregion, die bei Parkinson-Patienten behandelt wird, Dopamin produziert. Nun sollen die Versuche mit Schweinen wiederholt werden, die Parkinson-ähnliche Symptome zeigen. Damit wollen die Forscher herausfinden, welche Dopamin-Konzentrationen mit einer Verbesserung und mit einer Verschlechterung der Parkinson-Symptome einhergehen.

„Wir müssen noch besser verstehen, wie Elektrizität die Hirnchemie auf der Ebene der Nervenschaltkreise verändert“, sagt Helen Mayberg, Neurowissenschaftlerin an der Emory University in Atlanta. „Mit dieser Technologie können wir nun lokale chemische Veränderungen sehr genau verfolgen. Wenn sie noch mehr neurochemische Systeme erfasst, wird das unser Verständnis über die Mechanismen im Hirn enorm erweitern.“

Neben der Konzentration von Dopamin lässt sich mit dem neuen Elektrodensystem auch die von Serotonin messen, das mit dem Auftreten von Depressionen verbunden ist. Pharmaka wie das berüchtigte Prozac setzen am Serotonin an. Während Tiefenstimulierung etwa gegen Parkinson bereits eingesetzt wird, ist sie als Behandlung von Depressionen, Epilepsie oder Anorexie erst in klinischen Versuchen.

Lees Team hat bereits die Genehmigung bekommen, das neue Elektrodensystem an Menschen zu testen. Zunächst soll dies aber nur während Operationen geschehen, bei denen herkömmliche Elektroden eingesetzt werden. Damit könnten die Ärzte herausfinden, wie sich die Dopaminkonzentration verändert, wenn sie die Elektrode bewegen. Später sollen die Sensorelektroden aber Teil der tiefenstimulierenden Implantate werden. Hierfür werden derzeit Sensoren entwickelt, die lange genug halten. Außerdem sollen sie noch so weit verkleinert werden, dass sie mitsamt der zusätzlichen Elektronik im Schädel Platz finden.

Es gibt allerdings auch kritische Stimmen, die argumentieren, solche Tests seien noch verfrüht. „Die Technologie ist faszinierend, aber wir müssen noch viel mehr wissen, bevor sie an Patienten ausprobieren können“, warnt beispielsweise Ali Rezai, Hirnchirurg an der Ohio State University. Tierversuche müssten erst einmal eindeutig zeigen, dass die Resultate einer Tiefenstimulierung durch das System verbessert werden.

Lee will langfristig sogar noch weiter gehen: Das Gerät soll einen Rückkopplungsmechanismus bekommen, mit dem der Stimulus der einen Elektrode immer an die chemischen Konzentrationen, die die andere misst, angepasst wird. Nach diesem Prinzip arbeiten auch Herzschrittmacher: Sie regen das Herz nur dann an, wenn sie eine Unregelmäßigkeit entdecken. Die sei im Herzen allerdings ziemlich leicht festzustellen, sagt Rezai. „Im Gehirn hingegen ist das sehr viel komplizierter.“ (nbo)