Verriss des Monats: Der Gestenwürfel

Ist es die Rückkehr der wahren Größe? Die Revolution des Interface-Design? Eines ist dieser Würfel, der einen versteht, wenn man wedelt, mit Sicherheit: zu groß.

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Lesezeit: 5 Min.
Von
  • Peter Glaser

Die Kunst des gepflegten Verreißens zweifelhafter Produkte ist ein wenig aus der Mode gekommen. An dieser Stelle präsentiert unser Kolumnist Peter Glaser einmal im Monat deshalb eine Rezension der etwas anderen Art: Den Verriss des Monats. Vorschläge für besonders zu würdigende Produkte werden gerne per Mail entgegengenommen.

Man kann Dinge, wenn man es nicht gut mit ihnen meint, so beschreiben, dass sie unglaublich kompliziert klingen, obwohl sie es nicht sind. Als in den achtziger Jahren die ersten Rechner mit Maus und Desktop auftauchten, las ich in der Kolumne eines offensichtlichen Maushassers eine boshaft detaillierte Auflistung all der neuen Begrifflichkeiten – "anklicken", "mit dem Mauspfeil zeigen", "nehmen und verschieben" –, die einem eine Horrorvorstellung vom Umgang mit dieser neuen Technologie vermitteln sollten: Das Bild einer schrecklich umständlichen, lachhaften Mischung aus Fernseher und Schreibmaschine.

Und es gibt Dinge, bei denen es sich genau umgekehrt verhält. Sie sind ins Bizarre entgleist und man fragt sich, wie man ihr Wesen in einfache Worte fassen kann. Ein solches Ding ist der "Gesture Cube" (hier eine Video-Demonstration des Würfels). Die Steuerung von Geräten durch Gesten ist sowieso die bemerkenswerteste Medienrevolution seit der Abschaffung des Stummfilmgefuchtels, und spätestens seit dem (Ton-)Film "Minority Report" eine Standardanforderung an Zukunftsvisionen. Ein Mensch der Gegenwart, der unvermittelt in das Jahr 2050 geschleudert würde, fände sich mit ziemlicher Sicherheit inmitten von Zeitgenossen wieder, die sich unverständlicher, komplexer Zeige-Verständigungsformen bedienen – und zwar sowohl Menschen als auch Maschinen gegenüber. Die paar Gesten, mit denen wir heute unsere iPhones streicheln, werden dann längst zu den Höhlenmalereien einer neuartigen Gesten-Semantik gehören, mit welcher der Mensch sein Ausdrucksspektrum auf uns unvorstellbare Weise erweitert.

Ein Freund, der in den Achtzigern ein paar Jahre in Kalifornien gelebt hat, erzählte mir mal von einem Verrückter-Wissenschaftler-Bastlertypen, der ihm unbedingt seine Wohnung hatte zeigen, vielmehr vorführen wollen. Sie war komplett durchelektrifiziert und fernbedienbar. Neben Musik und TV konnten selbstverständlich die Rolläden elektrisch hoch- und runtergefahren, die Lichter und die Insektenvernichtungsgeräte ein- und ausgeschaltet werden, und noch einiges andere. Eine Jungsfantasie wie aus einem James Bond-Film der sechziger Jahre, als der Bösewicht Ernst Stavro Blofeld noch Mitgangster und Widersacher mit auf Knopfdruck ausfahrbaren Stadtmodellen, aus dem Boden hervorkriechenden Leinwänden oder ausschwenkenden Schreibtischteilen zu beeindrucken vermochte. Um seine vielen Fernbedienungen zu bändigen, hatte der Typ einen Würfel aus Pappe gebaut und auf alle sechs Seiten Fernbedienungen geklebt. Blöderweise verwechselte er die verschiedenen Fernbedienungen ständig und statt der Lüftung im Bad ging die Gartenbeleuchtung an oder die Jalousie im Wohnzimmer runter.

Dies ist, soweit ich sehe, die ideengeschichtliche Abkunft des Gesture Cube, des "next step in interface design". Statt mit profanen Fernbedienungen durcheinanderzukommen, arbeitet der Mensch des 21. Jahrhunderts natürlich mit Touchscreens – oder mit dem, was nach den Touchscreens kommt. Na? – genau: mit Gestensteuerung. Es ist eine Konzeptstudie, gestaltet von Lunar Europe, einem User-Interface von Zinosign und technischen Innereien der Firma Ident Technology, weswegen man erstmal großherzig darüber hinwegsehen kann, dass das Ding die Reaktionsgeschwindigkeit einer Weinbergschnecke hat.

Worüber man beim besten Willen nicht hinwegsehen kann, ist die Größe. Der Gesture Cube hat die Ausmaße eines tragbaren Fernsehers aus den siebziger Jahren und wir sehen auf dem Demo-Video, wie gestengewandte Menschen der nahen Zukunft das Ding begeistert von einem Zimmer ins nächste schleppen und es sogar neben die Spüle stellen, um zu zeigen, dass es ebenso nützlich bei der Küchenarbeit ist wie der Kühlschrank mit eingebautem Internet, mit dem uns die Firma Electrolux seit Jahren auf den Senkel geht.

Ich meine: Wir hatten Downsizing, also: alles musste bislang immer kleiner werden, aus Großrechnern wurden Rechner – etc. Inzwischen haben wir allerdings Gerätedimensionen erreicht, die einen befürchten lassen, dass man beispielsweise sein Mobiltelefon oder seinen iPod Nano in einem unvorsichtigen Moment einatmen könnte. Da es also mit dem Verkleinern nicht ständig so weitergehen kann, hatten wir zwischendurch als Gegenthese das Rightsizing, das davon ausgeht, dass der Mensch (und nicht der Ingenieur) das Maß aller Dinge ist, das heißt: Tasten an Fernbedienungen, Mobiltelefonen undsoweiter hatten wieder so groß zu sein, dass eine Fingerbeere bequem darauf Platz findet. Und vielleicht ist der Gesture Cube ein avantgardistischer Hinweis darauf, dass uns nach all dem Downsizing und Rightsizing nun ein Upsizing bevorsteht – eine Entschrumpfung, De-Miniaturisierung. Eine Rückkehr der wahren Größe.

Da der Gesture Cube nicht nur unhandlich ist, unschön aussieht und auch noch drei nervige Füßchen hat (statt sich einfach auf einer seiner stabilen Flächen abstellen zu lassen), kann man sich für die nahe Gestenzukunft, die uns heranwinkt, auch einfach übungshalber mit einem sandgefüllten Plastikeimer behelfen, der in Größe und Gewicht etwa dem Gesture Cube gleicht, oder notfalls auch mit einer wassergefüllten Hohlhantel, die man in seiner Wohnung von Zimmer zu Zimmer schleppt, um sich ab und zu der Vorrichtung mit Gesten zuzuwenden, welche in ihrer Feierlichkeit an die erste Begegnung der Menschheit mit außerirdischen Zivilisationen erinnern. Man kann allerdings auch pur sich selbst benutzen, um zu gestikulieren, gerätelos, und mit einem Finger an seine Schläfe tippen. (bsc)