Interview zur E-Patientenakte: Gesundheitsdaten-Wahl-O-Mat gegen Diskriminierung

Wo bei der elektronischen Patientenakte nachgebessert werden muss und was gegen Diskriminierung helfen kann, erklärt Manuel Hofmann von der Deutschen Aidshilfe.

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Eine rote Spielfigur steht in der Mitte und spaltet eine Gruppe weißer Spielsteine. Diese wollen mit der roten Figur nichts zu tun haben.

(Bild: Davizro Photography/Shutterstock.com / Bearbeitung heise online)

Lesezeit: 7 Min.

Bald kommt die elektronische Patientenakte (ePA) automatisch für alle, die nicht widersprechen. Die Daten aus der ePA sind eine wichtige Voraussetzung für Forschungsvorhaben des Bundesgesundheitsministeriums, von denen bis 2026 mindestens 300 umgesetzt werden sollen. Dafür sind unter anderem die Daten aus der elektronischen Patientenakte eingeplant. Für die Realisierung einer Pharmastrategie, mit der Pharmainvestitionen wieder zurück nach Deutschland geholt werden sollen, wurde diese Woche das Medizinforschungsgesetz beschlossen. Bei diesem gibt es vor allem Bedenken wegen der Unabhängigkeit der im Gesetz aufgeführten Bundesethikkommission, die beim Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) angesiedelt sein soll.

Laut Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach sind die Gesundheitsdaten sehr wichtig, um Deutschland wieder zu einem "Schwergewicht in der Forschung" zu machen. Ab Mitte 2025 sollen die Daten daher an das ebenfalls beim BfArM angesiedelten Forschungsdatenzentrum Gesundheit fließen. Kritiker befürchten, dass darunter die ärztliche Schweigepflicht leidet, besonders bei seltenen Erkrankungen. Lauterbach erklärte, dass die ePA extra so konstruiert worden sei, dass alle Diagnosen, die die HIV-Positivität bestätigen, ausgeblendet werden können. Bei den Informationen zur Medikation ist das allerdings nicht möglich, dieser müsse ganz widersprochen werden. Es sei wichtig, dass Ärzte die gesamte Medikationsliste sehen. Ebenso können Versicherte einzelnen Ärzten den Zugriff auf die ePA verbieten, das würden diese auch nicht mitbekommen.

Manuel Hofmann ist Referent für Digitales bei der Deutschen Aidshilfe.

Als weitere Vorkehrung sind Ärztinnen und Ärzte dazu angehalten, bei stigmatisierenden Erkrankungen nachzufragen, ob diese in der ePA sichtbar sein sollen. Zuletzt hatte es unter anderem Kritik von der Deutschen Aidshilfe gegeben, da Patienten aktiv werden müssen, um vertrauliche Informationen in ihrer ePA zu verbergen. So könne es sein, dass eine HIV-Infektion in den Befunden, in der Medikationsübersicht und in den Abrechnungsdaten auftaucht. Warum diese Maßnahmen nicht ausreichen, darüber haben wir mit Manuel Hofmann von der Deutschen Aidshilfe gesprochen.

heise online: Die Deutsche Aidshilfe hat sich kritisch zur ePA positioniert. Woran liegt das?

Manuel Hofmann: Wir setzen uns dafür ein, dass Menschen über ihre Gesundheitsdaten selbst bestimmen und sich so vor Diskriminierung schützen können. Als Deutsche Aidshilfe vertreten wir verschiedene, besonders verletzliche Patient:innengruppen. Diskriminierung im Gesundheitswesen ist eine Realität, mit der viele Menschen alltäglich konfrontiert sind.

Ohne jeden Zweifel braucht es eine gut gemachte digitale Infrastruktur des Gesundheitswesens. Dann hat Digitalisierung das Potenzial, Versorgung zu verbessern und Prozesse zu vereinfachen. Aber wenn Technik schlecht gemacht ist, befeuert sie Diskriminierung. Wir setzen uns daher bei allen technischen Entwicklungen dafür ein, das Diskriminierungsrisiko ernst zu nehmen und auf dieser Basis zu minimieren.

Die geplante "ePA für alle" wird diesem Anspruch momentan nicht gerecht. Ein Beispiel: In zahnärztlichen Praxen kommt Diskriminierung von Menschen mit HIV häufig vor. Möchte nun jemand nicht, dass die HIV-Infektion in der Zahnarztpraxis bekannt wird, muss dieser Mensch zunächst einzeln alle relevanten Dokumente verbergen. Danach müsste er auch noch die Medikationsliste sowie die Abrechnungsdaten der Krankenkassen ausblenden, denn auch aus diesen Bereichen der ePA gehen sensible Informationen hervor. Das ist für Patient:innen erst mal nicht offensichtlich.

Es fehlt also an Komfortfunktionen für maximale, handhabbare Selbstbestimmung, etwa durch die Möglichkeit einer einfachen Anweisung wie "Ich möchte, dass meine Zahnärztin nichts von meiner HIV-Infektion erfährt." Davon würden im Übrigen viele weitere PatientInnen profitieren, denn Gesundheitsdaten sind immer sensibel, Erkrankungen können schambehaftet sein und die Liste der Diagnosen, mit denen mögliche Stigmatisierung einhergeht, ist lang.

Welche Rolle spielt das Thema "Opt-out" aus Ihrer Sicht?

Der Umstieg auf "Opt-out" soll die Digitalisierung im Gesundheitswesen beschleunigen. Bei Versorgung und Forschungsdatenweitergabe zeugt es aber davon, dass bei der Entwicklung nicht die Interessen selbstbestimmt und aktiv handelnder Personen im Zentrum der Überlegungen standen. Eine ePA, die in wesentlichen Bereichen, ohne deren aktives Zutun eingesetzt werden kann, widerspricht dem Selbstbestimmungsansatz im Gesundheitswesen.

Uns ist wichtig, dass Menschen gut informierte Entscheidungen darüber treffen können, ob und wie sie die ePA nutzen möchten und ob sie ihre Daten zu Forschungszwecken zur Verfügung stellen. Das "Opt-out" ist über eine Reihe von Widerspruchsrechten geregelt. Unsere digitale Handreichung zur "ePA für alle" listet neun unterschiedliche: vom Widerspruch gegen das Anlegen der ePA, über das Löschen und Verbergen einzelner Dokumente bis hin zur Forschungsdatenweitergabe.

Gute Informationen helfen dabei, Patient:innen eine Entscheidungshilfe zu geben und in der Arbeit mit der ePA zu befähigen. Doch Selbstbestimmung im Umgang mit Gesundheitsdaten muss einfach und intuitiv sein.

Das Thema Selbstbestimmung wird in der ePA Ihrer Ansicht nach nicht genügend berücksichtigt. Was müsste sich dahingehend ändern?

Zunächst müssen die bisher verfügbaren "Vertraulichkeitsstufen" auch in die ePA für alle überführt werden. Derzeit sind nur die Sichtbarkeitsstufen "für alle" oder "verborgen" vorgesehen. Patient:innen können damit aber Gesundheitsinformationen nicht selektiv sichtbar machen, also zum Beispiel nur der hausärztlichen Praxis, weil sie dieser vertrauen, nicht aber der orthopädischen Praxis, die nur einmalig nach einer Sportverletzung besucht wird. Es gilt: alles oder nichts.

Selbst bei großen sozialen Netzwerken wie Facebook oder Instagram kann man seit Jahren Inhalte entweder allen, ausgewählten Menschen oder „nur für sich selbst“ freigeben – und die stehen weder an der Speerspitze des Datenschutzes, noch werden sie als besonders kompliziert in der Anwendung wahrgenommen.

Geholfen wäre Patient:innen, wenn sie festlegen können, dass neue Dokumente im Standard automatisch als "nur für sie selbst sichtbar" oder "nur für ausgewählte Ärzt:innen sichtbar" einsortiert werden. Das müsste dann auch die erwähnten Medikationslisten und Abrechnungsdaten einschließen.

Perspektivisch würde eine Art "Wahl-O-Mat für Gesundheitsdaten" Sinn ergeben. Geleitet mittels weniger, verständlicher Fragen könnten Patient:innen festlegen, wie jeweils mit ihren Gesundheitsdaten umgegangen werden soll: in der alltäglichen Versorgung, im Notfall und in der Forschung. Einmal festgelegt, könnte die technische Umsetzung im Hintergrund erfolgen und wäre nicht mehr die mühsame Aufgabe der Patient:innen.

Was sollte die ePA Ihrer Ansicht nach leisten? Was wünschen Sie sich?

Viele Patient:innen wünschen sich durchaus, dass alle wichtigen Gesundheitsdaten an einem digitalen Ort versammelt sind. Sie sind genervt davon, Röntgenbilder durch Fußgängerzonen zu schleppen und mit Papierakten von Ärztin zu Arzt zu laufen – da schließe ich mich aus eigener Erfahrung mit ein.

Derzeit gibt es aber ein Missverhältnis zwischen den Versprechungen, die mit der "ePA für alle" schon heute in Verbindung gebracht werden und dem realen erwartbaren Nutzen für behandelte Personen. Wir müssen da realistisch bleiben: Gesellschaftliche Probleme lassen sich nicht rein technisch lösen. Gleichzeitig gibt es fraglos Potenziale bei der ePA.

Ich wünsche mir daher, mit Blick auf die weitere Entwicklung, vor allem einen konstruktiveren Modus der Zusammenarbeit. Zum Beispiel, indem mehr Stimmen aus Digitaler Zivilgesellschaft und Patient:innenorganisationen mitreden können. Berechtigte Verbesserungsvorschläge aus Patient:innenperspektive dürfen nicht als vermeintliche Zögerlichkeit weggewischt werden. Denn sie würden die ePA auf lange Sicht besser machen und so auch die gesellschaftliche Akzeptanz steigern.

(mack)