30 Jahre Lotus Notes: Die Hard, Folge 30

Es gibt kaum ein Softwareprodukt, das so lange lebte, so oft totgesagt wurde und so heftige Abneigung auslöst wie Lotus Notes. Wir gratulieren.

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30 Jahre Lotus Notes: Die Hard, Folge 30

(Bild: Ray Ozzie)

Lesezeit: 9 Min.
Inhaltsverzeichnis

Mitch Kapor hat Notes als die beste Geldanlage seines Lebens bezeichnet: Mit 1,2 Millionen US-Dollar finanzierte der Lotus-Inhaber 1984 die Entwicklung eines jungen Teams um Ray Ozzie. Nur elf Jahre später wurde sein Unternehmen für 3,5 Milliarden von IBM aufgekauft. Der Vertrag zwischen Kapor und Ozzie wurde am 7. Dezember 1984 unterzeichnet und auf den Tag genau fünf Jahre später, am 7. Dezember 1989, wurde Lotus Notes 1.0 offiziell angekündigt.

Mitch Kapor zeigte sich hocherfreut über seine Investition

(Bild: @mkapor auf Twitter)

Auch wenn Ozzie als Vater von Notes bezeichnet wird, sieht er seine eigene Rolle viel bescheidener. "Ich habe das ganze Ding angeschoben, die Finanzierung organisiert, die Firma geleitet – und so weiter", erinnert sich Ozzie im Gespräch mit heise online. "Aber Tim Halvorsen und Len Kawell waren meine Mitgründer, die kannte ich beide von der Uni. Und es brauchte ein fantastisches Team – zunächst ein paar Dutzend, dann Hunderte, schließlich Tausende – um das zu schaffen, was wir aufgebaut haben."

Notes war in vieler Hinsicht völlig neu und wegweisend. Zertifikats-basierte Authentisierung, asymmetrische Verschlüsselung und Signierung von Dokumenten, Speicherung in einer verteilten, replizierenden NoSQL-Datenbank, Low-Code-Entwicklung durch Anwender, zentrale Verzeichnisdienste – kurz: niemand verstand eigentlich, was Ozzie da gezaubert hatte. Mit einer prominenten Ausnahme: Bill Gates hielt Ozzie für einen der weltbesten Entwickler und holte ihn viele Jahre später als seinen eigenen Nachfolger in der Rolle des CTO zu Microsoft. Ozzie schwor Microsoft 2005 auf eine neue Welt von Internet-verbundenen Services ein und scheiterte damit an CEO Steve Ballmer, der Windows und Office verkaufen wollte.

Notes Beta-Version in einer Vorabversion von Windows 1.0

(Bild: Ray Ozzie)

1984 begann die Notes-Entwicklung unter schwierigen Vorzeichen. PCs liefen mit MS-DOS und konnten lediglich 640 kByte Speicher adressieren. Ein Jahr zuvor hatte Bill Gates als Reaktion auf den Macintosh sein Windows angekündigt, konnte die erste Version aber erst im November 1985 liefern. Gates war davon überzeugt, dass die Zukunft grafischen Benutzeroberflächen gehört und überredete Ozzie, mit einer Vorabversion von Windows zu beginnen. Zu diesem Zeitpunkt war Windows noch kein eigenes Betriebssystem, sondern nur eine graphische Erweiterung für DOS. 30 Prozent seiner Entwicklungskapazität sei für die Bekämpfung von Speicherengpässen drauf gegangen, erinnert sich Ozzie.

15 Monate nach der Gründung konnte Ozzies Firma Iris Associates die erste Betaversion an Lotus liefern, ein MVP (Minimal Viable Product). Damals schon an Bord: NoSQL Datenbank, Forms/Docs/Views, eine IDE, Richtext Support, Client-Server, Replication, eine Mailanwendung sowie Sicherheit. Mail war "nur" eine Notes-Applikation, die stets im Quelltext geliefert wurde. Das Konzept sollte sich als tragfähig erweisen.

Alles in einer Notes-Datenbank ist eine Note. Formulare werden als Note gespeichert und erzeugen bei ihrer Anwendung Dokumente, die in Views aufgelistet wurden. Dokumente konnten Ende-zu-Ende mit RSA/DES verschlüsselt werden. Ron Rivest entwickelte RC4, um US-Exportrestriktionen zu überwinden. Auch das Directory war nur eine Notes-Anwendung und enthielt Adressen, Fotos und öffentliche Schlüssel der Nutzer, öffentliche Schlüssel der Server und Zertifikate für Organisationseinheiten.

Für Windows 1 mussten eigens überlappende Fenster und Icons entwickelt werden; Microsoft war noch im Clinch mit Apple. Windows selbst konnte den Bildschirm nur teilen, aber keine Fenster übereinanderlegen.

Lotus Notes 1.0, kompiliert am 27. November und vorgestellt am 7. Dezember 1989

(Bild: Ray Ozzie)

Als Notes am 7. Dezember 1989 erschien, liefen Client und Server auf Windows und OS/2. Ein erster Kunde war Sheldon Lobe, CTO von PriceWaterhouse, der 10.000 Lizenzen für sein Unternehmen erworben hatte. In der Version 1 sowie der 1991 erschienen Version 2 tat sich Notes schwer, Fuß zu fassen. Man muss sich vor Augen halten, dass LANs zu dieser Zeit noch selten waren und die Kommunikation per Modem überwog. Das war die große Zeit des Fidonets. 1992 erschien Windows for Workgroups und Notes hob mit Version 3 im Jahr 1993 ab. Microsoft brachte Exchange heraus und plötzlich gab es Konkurrenz und der Markt war gemacht.

Nach Europa kam Notes über Ludwig Nastansky, der seit 1985 Ordinarius für Wirtschaftsinformatik an der Hochschule St. Gallen war. Das war wahrscheinlich die erste Beta-Installation in Europa. 1991 nahm Nastansky einen Ruf an die Uni Paderborn an, wo er bis zu seiner Emeritierung im Jahr 2009 einen Lehrstuhl für Wirtschaftsinformatik innehatte.

Internes Memo vom 7. Dezember 1989 an die Lotus-Mitarbeiter

(Bild: Mitch Kapor)

Im Umfeld dieser Uni entstanden viele Lotus Business Partner, etwa Nastanskys Pavosoft GmbH, die 1992 von Lotus aufgekauft wurde und fortan als Lotus Consulting firmierte. Nastansky nutzte seine zweijährige Sperrfrist für die Gründung des Groupware Competence Centers an der Uni Paderborn. Teamwork, Pavone, oneSTONE, all diese Unternehmen entstanden im Umfeld der Uni, gefüttert von einem Strom junger Wirtschaftsinformatiker, die ihre Notes-Grundausbildung bereits durchlaufen hatten und für Business Partner interessant waren.

1995 kaufte IBM in einer feindlichen Übernahme Lotus für 3,5 Milliarden US-Dollar, ließ das Unternehmen aber wider alle Erwartungen gut fünf Jahre sehr selbstständig weiterarbeiten. Die Kulturen der Unternehmen waren nicht kompatibel. Lotus profitierte jedoch von IBMs Kriegskasse und seiner Vertriebsmannschaft und konnte exorbitant wachsen. Bis zur Version 4.5 kamen 129 Millionen zahlende Kunden zusammen. Notes war zu einem Milliardengeschäft geworden.

Notes 4.5

(Bild: Lotus)

Die von Iris Associates entwickelte Architektur sollte sich als langlebig herausstellen. Da Notes nicht auf Netzwerkstacks oder das Multitasking bestehender Betriebssysteme aufbauen konnte, mussten die Entwickler alles selbst schaffen. So gab es Treiber für Modems, ISDN-Karten, verschiedenste Netzwerkprotokolle wie Netware IPX und schließlich TCP/IP. Durch interne Tasks passte sich der Notes-Server an immer neue Protokolle an. Mail per SMTP, POP3, IMAP4? Für alles gab es einen Task. Dann kamen HTML-Renderer für Notes-Dokumente, ein Http-Server-Servertask namens Domino. Der wurde dann zum Namensgeber für Notes & Domino 4.5.

Lotus Notes R5 mit neuer Homepage

(Bild: Lotus)

Mit R5 machte IBM den vielleicht größten Marketing-Push, den das Produkt jemals sehen sollte. Und mit R5 fing Notes an zu flattern. Eine neue Homepage im Web-Design sollte die bekannte "Kachelwand“ von Notes ablösen. Die Anwender machten da nicht mit und das altmodische Bedienkonzept sollte ironischerweise zehn Jahre später mit dem iPhone wiedergeboren werden. Mehrere Seiten auf einem zweidimensionalen Raster angesiedelter Applikations-Icons mit einem Badge, der ungelesene Dokumente zählt? Genau das war das Bedienkonzept von Notes.

Notes musste durch seine Geschichte alles selbst liefern, alles selbst erfinden, und damit war es einigermaßen unabhängig von seiner Umgebung. Das qualifizierte diesen Alleskönner für Abteilungen und kleine Unternehmen, weil eben ein einziger Server alles selbst erledigte. Das aber passte nicht in IBMs Software Group, die Applikationsserver, Webserver, Datenbanken, Directory-Server, Entwicklungstools etc im Angebot hatte.

Als es mit der Unabhängigkeit von Lotus vorbei war und mit Al Zollar ein gestandener IBM-Manager das Zepter übernahm, begannen Versuche, Notes in die Software Group zu integrieren. Statt Domino einen eigenen Applikationsserver mit Hilfe von Tomcat einzupflanzen, sollte es nun Websphere sein. Notes-Dokumente sollten in DB2 gespeichert werden, Websphere sollte als IBM Workplace E-Mail und Applikationen liefern. Diese Versuche gingen alle gehörig in die Hose. Zu guter Letzt wurde Notes noch ein Eclipse-Framework übergestülpt, das aus einem dicken Client einen ganz fetten machte.

Aus dem gescheiterten Workplace-Projekt übernahm IBM die Xpages-Technologie in Notes und schaffte damit ein weiteres Programmiermodell für Notes-Anwendungen. Unter Ray Ozzie hatte Notes nur einfache @Formeln wie eine Tabellenkalkulation. Am erfolgreichsten war dann die Entwicklung mit LotusScript, einer Programmiersprache, die Visual Basic ähnelte. Mit IBM hielt dann Java Einzug, ein weiterer Baustein im immer größer werdenden Baukasten.

Man muss das Alter von Anwendungssoftware wohl in Hundejahren zählen. Mit zehn Jahren hat man schon einen Senior vor sich, mit 15 Jahren dann einen Hundertjährigen. Dreißigjährige Hunde gibt es so wenig wie 200 Jahre alte Menschen. Es ist schon eine seltene Erfolgsgeschichte, dass Notes so alt werden durfte. Auch wenn es seit zwei Jahrzehnten als demnächst tot erklärt wird, schlägt das Herz immer noch.

Mittlerweile hat IBM das Interesse verloren und das Business an das indische Unternehmen HCL verkauft, die vor wenigen Tagen Domino V11 ankündigten und für das nächste Jahr V12 avisieren. Domino soll wieder an die Ursprungsvision von der einfachen Anwendungsentwicklung anknüpfen, dieses Mal jedoch kollaborativ mit anderen Software-Lösungen. Ob tatsächlich noch einmal Unternehmen neue Anwendungen auf der Plattform entwickeln werden?

Die alten Notes-Anwendungen haben sich jedenfalls hartnäckig gegen einfache Migrationen gewehrt. Mail von Notes auf Exchange zu migrieren ist vergleichsweise einfach, aber der Prozess kommt stets ins Stocken, wenn es um die Anwendungen geht. Und so laufen sie dann weiter, die vernachlässigten Server, die niemand abschalten kann. Ein kleines gallisches Dorf aber gibt sich nicht geschlagen. Nur weht dort nicht mehr die IBM-Fahne, sondern die von HCL. Auf einen dreißigsten Geburtstag sollen weitere folgen. Und Ray Ozzie wird auch dieses Jahr auf Twitter seiner Schöpfung zuprosten. (vowe)