Virtuelle Tinte

In Pocket speichern vorlesen Druckansicht 2 Kommentare lesen
Lesezeit: 3 Min.
Von
  • Tim Gerber

Virtuelle Tinte

Über die Feiertage habe ich mal wieder meinen Freund Erwin besucht. Seine Frau schickte mich gleich ins Wohnzimmer, aber ich solle ihn lieber vorsichtig ansprechen, er sei recht in Rage, rief sie mir nach. Ich fand Erwin in seiner guten Stube, wo er gerade wutentbrannt auf etwas herumtrat. "Was machst du denn mit deinem iPad", fragte ich ihn leicht entsetzt und ohne weitere Begrüßung. "Das ist kein iPad", kam die mürrische Entgegnung, "meine Frau ist gegen solche teuren Anschaffungen. Das hier ist ein HbLED von Hexmark-Kanone, das gabs für nur 39,90". Dafür sah es aber recht schick aus, fand ich. "Hexmark-Kanone - die bauen doch sonst Tintendrucker?", fragte ich Erwin. "Genau", stieß der mit einem wütenden Zischen aus, "und darum braucht dieses verflixte HbLED auch sündhaft teure Tintenpatronen, damit es Texte und Bilder auf seinem Touchscreen ausgibt."

Ein Touchpanel mit Tinte? Ich wollte es nicht glauben.

"Ist auch keine echte Tinte", erklärte mir Erwin. Es sei ein ganz normaler Bildschirm und die Tinte verbraucht es nur virtuell aus einer rein elektronischen Patrone, so ähnlich wie eine SD-Karte. Wenn man Texte und Bilder anzeigt, berechnet das Betriebssystem hOS, wie viel Tinte bei Ausgabe des Inhaltes auf ein Blatt Papier nötig wäre, und leert den virtuellen Tintenspeicher um die entsprechende Menge, bis sie leer ist. Dann bleibt der Schirm weiß. Eine neue Patrone kostet 29,90 Euro, also nur 10 Euro weniger als das ganze HbLED. Als er das HbLED gekauft hat, waren es nur 19,90 Euro - das wäre ja noch gegangen. Aber als dann die erste "Patrone" leer war, ging Erwin in den Elektronik-Markt, wo er feststellen musste, dass der Preis inzwischen um 50 Prozent gestiegen war. Das HbLED gab es inzwischen als HbLED II mit Patronen zu 19,90 Euro. Die passen aber nicht in sein HbLED I, bestätigte ihm der Verkäufer.

Verärgert wollte Erwin schon aus Prinzip keine neue Patrone von Hexmark-Kanone kaufen. Er fand eine andere für 22 Euro, ein Nachbau der Firma Flamingo. Eigentlich kein Nachbau, denn die Anordnung der Kontakte auf der Speicherkarte hat Hexmark-Kanone sich patentieren lassen. Also recycelt Flamingo alte "Patronen" und füllt sie elektronisch wieder auf. Doch darunter leiden die feinen Leiterbahnen im Innern der Speicherkarte, die nur für einen Ladezyklus ausgelegt sind. Dann kommt es zu Ausfällen und die Schrift wird nur mit Streifen dargestellt, die Farben der Bilder sind falsch oder es kommt sogar zum Totalausfall.

Manchmal kann man die "Patronen" dann noch retten, aber der Fall, den Erwin gerade am Wickel hatte, schien hoffnungslos. "Kauf dir doch ein richtiges Pad ohne Tinte", riet ich. "Das wird es nicht mehr lange geben", sagte Erwin resigniert, "du hättest die Leute sehen sollen, wie sie hysterisch nach dem Billig-Pad griffen". - "Na, dann kauf dir schnell noch ein tintenfreies, bevor es zu spät ist", riet ich Erwin. Und Erwins Frau gab ich das Manuskript meines Artikels über Tintenkosten (siehe Seite 78), woraufhin sie Erwin das tintenfreie Pad anstandslos genehmigt hat. (tig)