Zurück auf Los
Ein novellierter Jugendmedienschutz-Staatsvertrag sollte dafür sorgen, dass alle deutschen Website-Betreiber ihre Inhalte klassifizieren müssen. Die Neuregelung ist gescheitert, damit steht die Jugendschutz-Politik vor einem Scherbenhaufen.
- Holger Bleich
- Herbert Braun
Kurz vorm Zieleinlauf hat der nordrhein-westfälische Landtag den novellierten Jugendmedienschutz-Staatsvertrag (JMStV) zu Fall gebracht. Die umstrittene Neuregelung für den Jugendschutz im Internet benötigte als sogenannter „Änderungsstaatsvertrag“ die Mehrheit in allen 16 Länderparlamenten. Mit der einstimmigen Ablehnung durch die NRW-Parlamentarier ist sie vom Tisch und muss nun von Grund auf neu verhandelt werden.
Das Ergebnis kam zustande, weil die CDU-Landtagsfraktion zwei Tage vor der Abstimmung am 16. Dezember erklärt hatte, gegen den Vertrag stimmen zu wollen. Dies war überraschend, weil noch im Juni der damalige CDU-Ministerpräsident Jürgen Rüttgers dem Vertragstext ohne Einschränkung zugestimmt und ihn unterschrieben hatte.
Regierung und Opposition in NRW warfen sich gegenseitig vor, parteitaktisches Verhalten über die staatspolitische Verantwortung zu stellen. Andreas Krautscheid, medienpolitischer Sprecher der CDU-Fraktion in NRW, erklärte aber auch, seine Fraktion habe Besorgnisse ernst genommen, „die in der Parlamentsanhörung am 4. November von Experten geäußert wurden“. Man habe nun Zeit, „Unklarheiten im Vertrag zu beseitigen und die Pflichten aus dem Vertrag besser zu kommunizieren“. Die Netzgemeinde habe einen Anspruch auf Präzision und Rechtssicherheit bei neuen Gesetzen.
Schwächen und Unklarheiten
Die Novellierung des JMStV war umstritten, weil sie de facto eine Klassifizierungspflicht für jeden Website-Betreiber vorsah. Jeder hätte seine Inhalte daraufhin überprüfen müssen, ob sie gemäß den aus dem Filmbereich bekannten Altersfreigaben (ab 0, 6, 12, 16 und 18 Jahren) „entwicklungsbeeinträchtigende“ Wirkung entfalten könnten. Ansonsten hätte man ab 1. Januar 2011 riskiert, juristisch belangt zu werden. Denn falls man tatsächlich derlei Content vorhält, hätte man dem neuen JMStV zufolge entweder den Zugang dazu für Jugendliche erschweren, den Content nur nachts abrufbar halten oder ihn gemäß einer Spezifikation kennzeichnen müssen. Kommerziellen Anbietern hätten ansonsten Abmahnungen von Mitbewerbern gedroht [1] .
Trotz der jahrelangen Vorbereitungszeit attestierten Rechtsexperten der JMStV-Neufassung handwerkliche Schwächen und Unklarheiten. Der Juraprofessor und Richter Thomas Hoeren etwa hatte gemutmaßt, „dass hier „Legastheniker“ am Werke waren, die erst nach mehrfachen Anläufen ihr Jurastudium an irgendeiner C-Universität zu Ende gebracht haben.“ Er hatte im Vorfeld der Entscheidungen gefordert, „den Unsinn zu stoppen“.
Auch die technische Umsetzung machte einen unausgereiften Eindruck. Die Kennzeichnung sollte aus einer Datei namens age-de.xml bestehen, die im Root-Verzeichnis des Servers liegen muss – Webauftritte, die nicht unter eigener Domain laufen, wären also ausgeschlossen gewesen. Eine optionale Kennzeichnung per HTTP-Header oder Meta-Tag sollte die XML-Datei nur ergänzen, nicht ersetzen.
Der Standard hätte ermöglicht, komplette Websites zu kennzeichnen und zugleich einzelne Bereiche oder HTML-Seiten separat einzustufen. Werkzeuge, um die Kennzeichnungsdatei zu generieren, hätte es zum 1. Januar aber ebenso wenig gegeben wie Filtersoftware, die diese ausgelesen hätte. Für das XML-Format existiert nicht einmal ein Schema, mit dem Website-Betreiber die Gültigkeit ihrer Kennzeichnung hätten prüfen können.
Drohgebärden
Federführend zuständig für die technische Umsetzung der neuen JMStV-Regelungen im Internet war die Freiwillige Selbstkontrolle Multimedia-Diensteanbieter e.V. (FSM). Sie sah in der Option der Alterskennzeichnung „einen progressiven und pragmatischen Schritt“, der nun nicht umgesetzt werden könne. Die Vorstandsvorsitzende der FSM, Gabriele Schmeichel, hofft, „dass die guten Ansätze aus der Novellierung und die Vorarbeiten der letzten Monate nun nicht gänzlich in der Versenkung verschwinden“.
Bei der Kommission für Jugendmedienschutz (KJM) als Aufsichtsgremium herrscht ebenfalls Ernüchterung. Man habe „in den letzten Monaten intensiv an der praktischen Umsetzung der Novelle gearbeitet, um die Neuregelungen mit Leben zu erfüllen“, heißt es in einer Mitteilung. Die KJM bedauere das Scheitern, „dennoch kann sie vieles, das bereits erarbeitet wurde, als Grundlage für die Weiterentwicklung des Jugendmedienschutzes nutzen“. Beide Institutionen betonten ausdrücklich, dass die seit 2003 gültige Version des JMStV nun auch über den 1. Januar 2011 hinaus Bestand habe. Es entstehe „kein rechtsfreier Raum“, erklärte die KJM.
So sieht es auch der federführend an der Novellierung beteiligte Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz, Kurt Beck. „Mit der alten gesetzlichen Regelung sind die Anbieter weiterhin auf die derzeit gültigen Sendezeitgrenzen im Netz angewiesen, die auch die Informationsfreiheit der erwachsenen Nutzer deutlich einschränken“, sagte der Ministerpräsident. Beck, der auch Vorsitzender der Rundfunkkommission ist, kündigte an, dass nun „die staatliche Regulierung von oben Platz greifen wird. Basierend auf den derzeitigen rechtlichen Grundlagen werden die Jugendschutzbehörden Sperrverfügungen erlassen“.
Die bislang und nun auch weiterhin gültige Regelung von 2003 fand im Web kaum Beachtung, Verstöße wurden nicht geahndet. Zu absurd und weltfremd schien beispielsweise der Gedanke, private Blogbetreiber, die keine Sendezeitbeschränkung einhalten, zu sanktionieren. Lediglich vereinzelt findet man derzeit Sendezeitschranken, so etwa in den Mediatheken der öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten. Beck fordert nichts anderes, als Verstöße gegen die weltfremden JMStV-Regeln ab sofort zu ahnden. In der Folge könnte sich die Ablehnung des neuen JMStV gerade für die „Netzgemeinde“ als Pyrrhussieg erweisen.
Literatur
[1] Holger Bleich, Joerg Heidrich, Altersfreigaben fürs Web, Jugendschutz im Web bald mit Kennzeichnungspflicht?, c’t 26/10, S. 18 (hob)