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mehr als 1000 Beiträge seit 14.02.2016

Hab ich auch mal gedacht, doch es stimmt nicht ganz

shopykop schrieb am 11.09.2016 23:54:

Das Hauptproblem ist, dass es klappte die Ereignisse von 9/11 als Rechtfertigung für Kriege und Menschenrechtsverletzungen zu nehmen.

Stimmt denn das? Wenn wir der Vereinfachung halber die amerikanische Öffentlichkeit beiseite lassen, in der der Patriotismus eine eigene Dynamik zu stiften erlaubte, lautet die Antwort eindeutig Nein, es stimmt nicht. Die US-Regierung nahm 9/11 zum Rechtstitel, um dem Rest der Welt den Krieg zu erklären, nämlich dem Antiamerikanismus der restlichen Welt unter dem Titel "Terrorismus". Originalton:

"Either you are with us, or with the terrorists".

Ein Rechtstitel ist etwas anderes, als eine Rechtfertigung. Eine Rechtfertigung bindet sich mindestens theoretisch an geltende Rechtsprechung und die Akzeptanz der Adressaten für die Subsummierung des fraglichen "Falles" unter gültig gemachte Paragraphen oder Traditionen ihrer Auslegung. Ob diese theoretische Bindung dann auch praktisch eingelöst wird, ist freilich immer eine Machtfrage. Ein Rechtstitel hingegen wird neu geschaffen und seine Durchsetzung ist von vornherein eine Angelegenheit militärischer (bzw. polizeilicher) Durchsetzung auf der Grundlage militärischer Machtverhältnisse, welche die Durchsetzung ohne hinderliche Nachteile erlauben.
Einen gemeinhin für unspektakulär geltenden Präzedenzfall hat die Reagan-Administration gesetzt. Zwischen 1945 und 1981 war der Rechtstitel für die Vorbereitung eines Vernichtungskrieges gegen die Sowjetunion "Verteidigung gegen den Kommunismus". Danach war es der (End-)Kampf gegen das Reich des Bösen.. Dafür brauchte Reagan nicht mal einen Anlaß. Der Abschuß von KAL 007 war bloß noch eine Bebilderung für den beanspruchten Tiltel, für dessen Mobilisierung die pure Entschlossenheit der US-Administration auf der Basis ihrer errungenen militärischen Übermacht hinreichte.

D.h. die Machthaber können sich über die Gesetze und Interessen der Bürger hinwegsetzen nur weil ein lokales und relativ begrenztes Ereignis stattgefunden hat

Nein, sie können es, weil sie über die Gewaltmittel verfügen, ihren Willen durchzusetzen. Die Anlässe werden geschaffen oder genommen, wenn und weil diese Macht verfügbar ist. Sie dienen als ein Angebot für diejenigen, gegen die direkt militärisch vorzugehen der Kriegszweck und die Kriegsziele nicht vorsehen, sich mit dem Angreifer zu alliieren, um Chancen und Gelegenheiten zu erwerben, die zu erwartenden Kriegslasten zu minimieren.
Im Falle des Irakkrieges wurde das Angebot zum Beispiel von Schäuble so angenommen:

In der internationalen Ordnung ist es wie im Staat: Am Ende braucht das Recht immer die Macht zu seiner Durchsetzung; Recht ohne die Fähigkeit zur Durchsetzung schafft keine Ordnung, schafft keinen Frieden, schafft keine Gerechtigkeit, schafft keine Stabilität. Auch deswegen sage ich:Von all den vielen Übeln, zwischen denen am Schluss zu wählen war, wäre das demütigende Scheitern der Vereinigten Staaten von Amerika für den Frieden in der Zukunft und für die Stabilität in der Welt möglicherweise ein noch größeres Risiko gewesen als der Krieg, den wir jetzt erleben

Ich empfehle die ganze Rede nachdrücklich:
http://www.documentarchiv.de/brd/2003/rede_schaeuble_irakkrieg.html

Die Rechtfertigung, von der Du sprichst, ist eine andere Nummer. Da handelt es sich um das Verständnis für die Mächtigen, zu der sich Unterworfene vorarbeiten, um sich in der Gestalt des moralischen Subjektes vor dem Verstoß zu rechtfertigen, den sie gegen sich in der Gestalt des berechnenden Subjekts von Interessen begehen, indem sie sich in die Lasten und Schäden schicken, die ihre Herren ihnen auferlegen. Schäuble nennt oben beides, den Rechttitel, die übermächtige Gewalt der USA, und die Rechtfertigung, die er am Ende nackt präsentiert:

Der deutsche Außenminister, Herr Fischer, hat immer wieder gesagt: Die Frage von Krieg und Frieden liegt letzten Endes allein in den Händen von Saddam Hussein. Sie sollten das auch heute und morgen wieder sagen. Saddam Hussein trägt die Verantwortung dafür und Saddam Hussein ist die Gefahr für den Weltfrieden. Es ist traurig, dass es nicht gelungen ist - das ist auch unser Ziel gewesen -, ihn mit friedlichen Mitteln zu entwaffnen. Damit sind wir gescheitert. Aber die Verantwortung liegt in aller erster Linie bei Saddam Hussein

Jetzt wirst Du wahrscheinlich sagen: Aber all das bestätigt doch, was ich schrieb!

Das ist einerseits korrekt, ich habe ja am Beispiel Schäuble die Zweitrangigkeit des Anlasses 9/11 dokumentiert.
Andererseits ist es falsch, weil eine Rechtfertigung moralischer Beliebigkeit unterliegt, ein Rechttitel, wie oben begründet, hingegen nicht. Ein Rechtstitel ist ein Gewaltakt, er ist genau so viel wert, wie die Gewalttätigkeit, bzw. die Entschlossenheit zu ihr, mit der er geltend gemacht wird. In Schäubles Rede kommt das in der Berufung auf Risiken und Nebenwirkungen eines

"demütigenden Scheiterns der Vereinigten Staaten von Amerika"

vor und zum Ausdruck. Dieser Titel hat nichts mit dem Irakkrieg und mit Saddam Hussein zu tun, sondern auschließlich mit der stummen Faktizität des Rechtstitels, der mit 9/11 in die Welt gesetzt wurde. In Obamas Worten: "Yes, we can".

Und das ist Bröckers Thema, kein "Who'd dun it", kein "wer sind die Bösewichte", "wer zählt zu den Verschworenen" und so zu. Sein Thema - und meines - ist der Fetisch 9/11. Um den als solchen zu erkennen, und die Reichweite der Macht zu ermessen, die ihm verliehen wird, ist die Frage und Gegenüberstellung, was an 9/11 tatsächlich geschehen ist, und wie es verhandelt wird, nicht zweitrangig, sondern erstrangig. Andernfalls - und über Deinen überallgemeinen Begriff von Rechtfertigung codiert - wird eine Auseinandersetzung über das Verhältnis von Anlaß und Folgen von 9/11 zur moralischen Prinzipienfrage von Herrschaft und Unterwerfung. Ob sie sein dürfe, also überhaupt zu rechtfertigen sei, und wenn ja, welche Grenzen solcher Rechtfertigung gesetzt sein sollten oder müßten.

Und das ist, siehe oben, unausweichlich die Frage, die Forderung oder - der verbreitetste Fall - der WUNSCH, das SEHNEN nach einem obersten Richter.. Daher Teil der Wurzel des Problems, statt eines Beitrages zu seiner Lösung.
Denn mit 9/11 hat sich die amerikanische Regierung auf der Grundlage der ultimaten Macht ihrer Bewaffnung zum obersten Richter auf diesem Planeten gekürt. Die Angelegenheit ist entschieden.

Bröckers sagt, daß sie entschieden ist. Er fügt allerdings durch die Weise, wie er es sagt, hinzu: Alles hat ein Ende, nur die Wurst hat zwei.
Das ist ein bißchen dünne, zugegeben, aber besser eine dünne Wurst, als gar keine ...

Das Posting wurde vom Benutzer editiert (12.09.2016 02:23).

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