14 Hirnelektroden gegen Depressionen: "Als wäre mein Hirn wieder normal online"

Ersten an Depressionen erkrankten Personen wurden 14 Elektroden im Gehirn implantiert. Für einen von ihnen haben sie sein Leben gerettet.

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(Bild: KomootP/Shutterstock.com)

Lesezeit: 13 Min.
Von
  • Jessica Hamzelou
Inhaltsverzeichnis

Das Leben von John, dessen echten Namen wir hier nicht nennen werden, änderte sich für immer, als die Beziehung zu seiner Freundin endete. Die Trennung stürzte ihn in eine Abwärtsspirale und führte zu seiner ersten depressiven Episode, als er 27 Jahre alt war. "Zuerst ist man einfach nur extrem traurig ... dann fängt man an, nicht mehr zu schlafen", sagt er. John entwickelte lähmende Angstzustände, erlebte Panikattacken und dunkle Gedanken, die ihn schließlich suizidgefährdet machten.

Medikamente halfen John nicht. Er sagt, er habe so ziemlich jedes Antidepressivum, Antipsychotikum und Beruhigungsmittel ausprobiert, das es gibt. Und während die Elektrokrampftherapie – eine Behandlung, bei der eine oder beide Kopfregionen einer Person elektrisch stimuliert werden – ihn schließlich aus seiner ersten großen depressiven Episode herausholte, konnte sie die Symptome einer zweiten Episode, die etwa fünf Jahre später begann, nicht beeinflussen.

Im Rahmen einer klinischen Studie hat John jedoch von einer neuen experimentellen Behandlung profitiert, bei der Elektroden tief in sein Gehirn eingeführt werden, um regelmäßige Stromimpulse abzugeben. Die tiefe Hirnstimulation wird bereits zur Behandlung schwerer Fälle von Epilepsie und einiger Bewegungsstörungen wie bei der Parkinson-Krankheit eingesetzt. Depressionen sind jedoch komplizierter – zum Teil deshalb, weil wir immer noch nicht vollständig verstehen, was im Gehirn vor sich geht, wenn sie auftreten.

"Depressionen sind eine komplexe Erkrankung", sagt Patricio Riva Posse, Neurologe an der Emory School of Medicine in Atlanta, Georgia, der die Studie kennt. "Es ist nicht so, als würde man versuchen, einen Tremor zu korrigieren – es gibt ein ganzes Universum an Symptomen." Dazu gehören gedrückte Stimmung, Suizidalität, Unfähigkeit, Freude zu empfinden, sowie Veränderungen der Motivation, des Schlafs und des Appetits.

Ärzte setzen seit Jahrzehnten Elektrizität zur Behandlung von Hirnleistungsstörungen – einschließlich Depressionen – ein, und einige Studien haben bereits ergeben, dass Elektroden, die tief im Gehirn platziert werden, manche Menschen aus dem Symptomkreislauf herausreißen können. Die Ergebnisse sind jedoch noch uneinheitlich. Neurowissenschaftler hoffen, dass sie die Behandlung effektiver gestalten können, wenn sie erst einmal besser verstehen, was im Gehirn von Menschen mit Depressionen wie denen von John passiert.

John ist einer von fünf Menschen, die sich freiwillig gemeldet haben, um ihre Gehirne im Rahmen einer klinischen Studie untersuchen zu lassen – so groß ist sein Leidensdruck. Anfang 2020 wurden ihm insgesamt 14 Elektroden in sein Gehirn implantiert. Neun Tage lang lag er mit abstehenden Kabeln, die um seinen Kopf gewickelt waren, in einem Krankenhaus, während Neurowissenschaftler beobachteten, wie seine Gehirnaktivität mit seiner Stimmung korrelierte.

Die Forscher, die hinter der Studie stehen, sagen, dass sie einen "Stimmungsdecoder" entwickelt haben – eine Methode, mit der man allein anhand der elektrischen Hirnaktivität herausfinden kann, wie sich jemand fühlt. Die Wissenschaftler hoffen, mit Hilfe des Decoders messen zu können, wie schwer die Depression einer Person ist, und genauer zu bestimmen, wo die Elektroden angebracht werden müssen, um die elektrische Wirkung auf die Stimmung des Patienten zu optimieren. Bislang haben sie die Ergebnisse von drei Freiwilligen analysiert.

Die Ergebnisse sind äußerst vielversprechend, meint Sameer Sheth, ein Neurochirurg am Baylor College of Medicine in Houston, Texas, der die Studie leitete. Ihm und seinen Kollegen ist es nicht nur gelungen, die spezifische Gehirnaktivität der Probanden mit ihrem emotionalen Zustand in Verbindung zu bringen, sondern sie haben auch einen Weg gefunden, eine positive Stimmung zu stimulieren. "Dies ist der erste Nachweis einer erfolgreichen und konsistenten Stimmungsdekodierung beim Menschen in diesen Hirnregionen", sagt Sheth. Sein Kollege Jiayang Xiao stellte die Ergebnisse auf der Jahrestagung der Society for Neuroscience in San Diego im November vor.

Bei der Tiefenhirnstimulation (Deep Brain Stimulation, DBS) werden in der Regel bislang nur ein oder zwei Elektroden tief in das Gehirn eingesetzt, um Stromimpulse an bestimmte Regionen abzugeben. Bei einigen Menschen mit der Parkinson-Krankheit kann diese Methode sehr gut funktionieren, da sie zur Stimulation von Bereichen eingesetzt wird, die die Bewegungen kontrollieren. Forscher untersuchen, ob die Technik auch zur Behandlung von psychiatrischen Problemen wie Zwangsstörungen, Essstörungen und Depressionen eingesetzt werden kann.

Eine Handvoll Studien, die Anfang und Mitte der 2000er Jahre durchgeführt wurden, deuteten darauf hin, dass die DBS Menschen mit Depressionen helfen könnte, die auf typische Behandlungen wie Antidepressiva nicht (mehr) ansprechen. Die ersten Ergebnisse von zwei großen klinischen Studien waren jedoch enttäuschend, die Versuche wurden vorzeitig abgebrochen.

Es ist nicht klar, warum diese Untersuchungen nicht die gleichen Ergebnisse wie frühere Studien erbrachten. Die unterschiedlichen Erfolgsquoten könnten jedoch damit zusammenhängen, wie die Hirnstimulation durchgeführt wird. Es wird angenommen, dass mehrere Gehirnregionen bei Depressionen eine Rolle spielen. Und es gibt eine Vielzahl von Möglichkeiten, elektrische Impulse zu verabreichen. "Wir wissen zunächst nicht, wie wir die DBS bei einer konkreten Person [mit Depressionen] intelligent einsetzen können", sagt Sheth. "Die Therapie war einfach noch sehr unausgereift".

Sheth versucht deshalb, herauszufinden, was am besten funktionieren könnte. Er und seine Kollegen haben sich dazu einen hirnchirurgischen Ansatz zu eigen gemacht, der manchmal bei Epilepsie-Patienten angewandt wird, bei denen Medikamente keine Besserung herbeiführen. In diesen Fällen implantieren die Ärzte Elektroden im Gehirn der Betroffenen, um herauszufinden, wo konkret die Anfälle beginnen. Sobald diese Regionen identifiziert sind, können sie entweder mit Elektroden stimuliert oder schlimmstenfalls ganz entfernt werden.

Aber Depressionen haben ihren Ursprung nicht an einem einzigen Punkt im Gehirn, wie es bei epileptischen Anfällen oft der Fall ist. Sheth und seine Kollegen verfolgen jedoch denselben Ansatz – sie implantieren vorübergehend Elektroden im gesamten Gehirn, um die Hirnaktivität zu überwachen. Sie gewinnen so nähere Erkenntnisse über die Erkrankung. Das Team interessiert sich vor allem dafür, wie sich die Muster der Gehirnaktivität unterscheiden, wenn sich eine Person besser oder besonders schlecht fühlt. Sheth und seine Kollegen experimentieren auch mit Stimulationen – welches Niveau, welche Art und welche Frequenz sind am besten geeignet, um das Gehirn wieder in einen positiven Stimmungszustand zu versetzen? Mit diesen Informationen werden Neurochirurgen dann hoffentlich eines Tages in der Lage sein, Menschen mit Depressionen besser zu helfen. Und die tiefe Hirnstimulation wird so mit größerer Wahrscheinlichkeit funktionieren.

John war der erste Proband, der sich dem Verfahren unterzog. Sheth und seine Kollegen setzten ihn unter Vollnarkose, bevor sie Löcher in seinen Schädel bohrten, um die Elektroden einzuführen. Das Team implantierte zwei DBS-Elektroden auf jeder Seite des Gehirns in Regionen, von denen angenommen wird, dass sie an den Symptomen von Depressionen beteiligt sind. Zusätzlich wurden fünf temporäre Elektroden auf jeder Seite des Gehirns platziert, um Johns Aktivität in Regionen zu überwachen, die mit Stimmung und Kognition in Verbindung stehen.

Um die richtige Stelle für die Stimulation zu finden, musste das Team John während seiner Operation aufwecken. Er erinnert sich, dass er immer wieder gefragt wurde, wie er sich fühle, während die Chirurgen mit den Elektroden in seinem Gehirn herumstocherten. "Dann trafen sie eine Stelle und ich sagte: Ich fühle mich tatsächlich, als wäre mein Hirn wieder normal online gegangen", sagt er. "Depressionen sind wie eine ständige Last auf deiner Seele. Als sie diese perfekte kleine Stelle berührten, fiel diese Last von mir ab."

Der Patient erinnert sich, wie die Ärzte lachten und ihm sagten, sie hätten die richtige Stelle gefunden. Er schlief wieder ein. John wachte "mit Kopfschmerzen auf, wie es sie noch nie gegeben hatte", und verbrachte die nächsten neun Tage unter strenger Überwachung von Sheth und seinen Kollegen. Alle paar Stunden stellte ihm das Ärzteteam Fragen zu seiner Stimmung und seinem Befinden.

Am Ende der neun Tage entfernte das Team zehn Überwachungselektroden aus Johns Gehirn, ließen aber die vier DBS-Elektroden drin. Diese Elektroden waren mit einer wiederaufladbaren Batterie verbunden, die in Johns Brust implantiert war. In den Jahren seither wurden die Stimulationsimpulse leicht optimiert. Sechs Monate nach der Operation schaltete das Team die Stimulation ab, ohne John darüber zu informieren. Seine Symptome verschlimmerten sich sofort. "Es war offensichtlich", sagt er. "Ich sagte dem Team: Ich weiß nicht, was Ihr gemacht habt, aber ich kann nicht schlafen, ich bin unruhig ... es funktioniert einfach nicht." Das Gerät wurde wieder eingeschaltet und läuft seither wieder.

Sheths Team hat das gleiche Verfahren bisher bei vier weiteren Personen durchgeführt – alle mit schweren, behandlungsresistenten Depressionen. Insgesamt sollen zwölf Personen untersucht werden. Trotz der ersten Anzeichen von Erfolg planen Sheth und seine Kollegen nicht, dieses Verfahren in größerem Umfang einzuführen. Die vorübergehende Implantation von zehn Elektroden in das Gehirn gibt zwar Aufschluss über die Depression einer bestimmten Person, ist aber kein praktikabler Ansatz für die Behandlung einer Erkrankung, von der allein in den USA fast drei Millionen Menschen betroffen sind. Es handelt sich aktuell noch um einen invasiven, teuren Eingriff, der viel Zeit in Anspruch nimmt – und auch Risiken birgt.

Stattdessen hofft Sheth, unter seinen zwölf Freiwilligen Trends zu erkennen und diese dann zu nutzen, um eine verbesserte Form der DBS zu entwickeln, die nahezu jedem helfen kann, der sie braucht. "Wir hoffen, dass wir dabei einige Erkenntnisse gewinnen, die wir verallgemeinern können", sagt er. Sheth und seine Kollegen haben bisher nur die Gehirnaufzeichnungen von drei Personen analysiert, aber sie fanden bereits Trends. Eine Hirnregion, der so genannte cinguläre Kortex, feuert in einer bestimmten Weise, wenn alle drei der Probanden in besserer Stimmung sind. Sie zeigt das gegenteilige Aktivitätsmuster, wenn die Patienten emotional "down" sind, sagt Sheth.

Neurologe Riva Posse sagt, die Ergebnisse seien "sehr ermutigend" und meint: "Wir beginnen zu verstehen, dass es elektrische Signale für Depressionen gibt, die ziemlich einheitlich zu sein scheinen." Dies werde das Verständnis der Erkrankung erheblich voranbringen und dazu beitragen, neue Neurostimulationsansätze zu entwickeln. Dennoch sei es noch zu früh, um zu sagen, ob sich diese Ergebnisse auch auf eine größere Gruppe von Menschen übertragen lassen. "Es handelt sich nur um drei Patienten", sagt auch Darin Dougherty, Psychiater am Mass General Research Institute in Boston, der sich auf Neurochirurgie bei Depressionen spezialisiert hat.

Dougherty hält Sheths Forschungsarbeit dennoch für "wesentlich". Er meint: "Hoffentlich erhalten sie genügend Daten von einer kleinen Gruppe von Menschen, so dass wir von der [Implantation mehrerer temporärer Elektroden] wegkommen." Er geht davon aus, dass Sheths Ansatz eine Hirnregion identifizieren könnte, die bei den meisten Menschen mit behandlungsresistenten Depressionen ins Visier genommen werden sollte. Nicht-invasive Hirnscans könnten die genaue Stelle für die Implantation der Elektrode auffinden.

Sheth und seine Kollegen fanden allerdings auch einige Unterschiede zwischen den drei Freiwilligen. Und der "Stimmungsdecoder" des Teams konnte anhand der Hirnaktivität feststellen, wie sich die einzelnen Freiwilligen fühlten. Das Team hofft, dass neue Technologien es ihm und anderen in Zukunft ermöglichen werden, diese Informationen auch ohne Implantate zu erfassen, vielleicht mit einem Gerät, das auf dem Kopf einer Person platziert wird. Mit einem solchen Gerät könnte man auch den Schweregrad der Symptome einer Person messen, sagt er.

Heutzutage wird Menschen mit depressiven Symptomen in der Regel eine Reihe von Fragen gestellt, um den Schweregrad der Erkrankung zu ermitteln. Eine Art objektives Maß – wie die Ergebnisse eines Gehirnscans – wäre eine wichtiges Hilfe für die Psychiatrie, sagt Dougherty.

Allerdings dürften diese nicht perfekt sein. Hirnscans sind – zumindest bislang – nie empfindlich genug, um die individuellen Unterschiede in den Gehirnen von Menschen zu berücksichtigen, wenn es um die Symptome einer Depression geht. Sie könnten zudem Anzeichen bei einigen Menschen übersehen und sie bei anderen überschätzen. Sheth sieht auch die Gefahr, dass Hirnscans aufgrund von Forschungsarbeiten wie seiner eines Tages dazu verwendet werden könnten, Depressionen bei Personen zu diagnostizieren, die nicht offensichtlich krank sind – oder sie bei Personen aufzudecken, die dies gar nicht wollen.

John zum Beispiel möchte nicht, dass andere – insbesondere potenzielle Arbeitgeber – wissen, dass er an Depressionen leidet. "Die Leute verstehen Depressionen nicht, und leider sehen sie sie als Schwäche an", sagt er.

Trotzdem müsse man den Millionen von Menschen mit Depressionen helfen, meint Sheth, "auch wenn es die Möglichkeit des Missbrauchs gibt." Es müssten Wege gefunden werden, um diesen Menschen zu helfen. "Der Rest der Gesellschaft kann uns dabei helfen, Leitplanken für den Einsatz dieser Technologie zu setzen."

Johns Elektroden geben immer noch elektrische Stimulationsimpulse tief in sein Gehirn ab. Er lädt die in seiner Brust eingebettete Batterie jede Woche auf. "Soweit ich sagen kann, fange ich wieder bei Null an, wenn die Stimulation aufhört", sagt er. Und auch wenn die DBS nicht bei jedem Depressionspatienten funktioniert, "hat sie mir das Leben gerettet", betont er.

(jle)