Die Stromheiler

Viele Zellen im Körper kommunizieren über Stromimpulse. Nun entwickeln Forscher Elektro-Therapien gegen große Volksleiden – und wollen sogar Gliedmaßen auf diese Weise regenerieren.

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Von
  • Veronika Szentpetery-Kessler
Inhaltsverzeichnis

Viele Zellen im Körper kommunizieren über Stromimpulse. Nun entwickeln Forscher Elektro-Therapien gegen große Volksleiden – und wollen sogar Gliedmaßen auf diese Weise regenerieren.

So schnell wirkte noch nie ein Medikament – und schon gar keines ohne Nebenwirkungen: Fünf Sekunden nachdem die Freiburger Wissenschaftler den Stimulator angeschaltet hatten, fiel der Blutdruck der Versuchstiere um bis zu 30 Prozent. Unerwünschte Effekte wie eine verminderte Herz- oder Atemfrequenz blieben aus. Das klingt nicht nur wie eine Revolution in der Medizin, es ist auch eine. Mit ihrer Entdeckung könnten die Freiburger die Therapie für eine der häufigsten Leiden weltweit auf völlig neue Beine stellen. Das Team um Thomas Stieglitz und Dennis Plachta hatte den Nagern eine neu entwickelte Elektrode in den Hals implantiert und dort wie eine Manschette um den Vagusnerv gelegt. Er dämpft die Aktivität von Organen und Körperfunktionen und meldet ihren Status ans Gehirn. Als die Wissenschaftler den Strom anschalteten und bestimmte Fasern in ihm stimulierten, sank der Blutdruck nahezu schlagartig.

Experimente wie dieses zeigen, warum Aufbruchsstimmung auf dem Gebiet der Elektromedizin herrscht. Drei große Erwartungen knüpfen die Mediziner an die stimulierenden Implantate: Sie könnten als Alternative zu Medikamenten dienen, die bei vielen Patienten nicht wirken oder starke Nebenwirkungen verursachen. Sie könnten eine Ergänzung sein zu Mitteln, um ihre Wirkung zu verstärken. Die größte Hoffnung aber ist, dass sie Leiden kurieren, gegen die es bislang gar kein Medikament gibt.

Von Alzheimer über Diabetes bis hin zu Krebs reichen die Krankheiten, die Forscher derzeit untersuchen. So gut scheinen die Aussichten, dass die Branche den elektrischen Stimulationsmethoden sogar einen eigenen Namen gegeben hat: Elektrozeutika, analog zu den Pharmazeutika. Im Herbst 2014 haben die US-amerikanischen National Institutes of Health zudem ein gewaltiges Förderprogramm beschlossen: 250 Millionen Dollar stecken sie in Sparc (Stimulating Peripheral Activity to Relieve Conditions). Es soll die Schaltkreise des Körpers systematisch kartieren, ihre Sprache genauer verstehen und herausfinden, wo der beste Platz für die Elektroden ist. In den nächsten sechs Jahren sollen zudem Stimulatoren für diese Schaltkreise entwickelt werden.

"Die Idee der Neuromodulation gibt es zwar seit über 50 Jahren. Doch die Geräte haben sich lange nicht weiterentwickelt", sagt Kip Ludwig, Programmdirektor für Neural Engineering beim US-Forschungsinstitut National Institute of Neurological Disorders and Stroke (NINDS). Mediziner wussten, dass Nervenzellen elektrisch miteinander kommunizieren und Steuerbefehle an Organe weitergeben. So lassen Schrittmacher kranke Herzen wieder im richtigen Takt schlagen, Elektroden tief im Gehirn helfen gegen schwere Bewegungsstörungen, etwa bei Parkinson. "Aber unsere Karten der neuronalen Schaltkreise waren nicht sehr präzise. Und auch unser Verständnis für ihre Sprache war sehr grob", sagt Ludwig. Selten war klar, welche der vielen Nervenfasern sie wie stimulieren mussten, um Heileffekte zu erzielen. Der Bioingenieur Brian Litt von der University of Pennsylvania hat die Aufgabe einmal folgendermaßen beschrieben: "Es ist, als ob man versuchen würde, ein Messgerät quer über eine Autobahn zu legen und herauszufinden, welche Autos bei welcher Ausfahrt rausfahren werden."

So blieb die Elektromedizin lange im Schatten anderer Behandlungsansätze. Die Pharmaforschung konzentrierte sich auf chemische Wirkstoffe, weil Therapien mit ihnen naheliegend waren: Das Hormon Adrenalin beispielsweise lässt das Herz schneller schlagen. Insulin regelt den Blutzuckerspiegel. Enzyme bauen große Zuckermoleküle oder zuckerhaltige Fettstoffe ab. So lag es nahe, die Wirkstoffe in Tabletten oder Spritzen zu packen, um das System zu reparieren, wenn es aus dem Ruder lief.

Nun jedoch zeigen neuere Studien, wie genau elektrische Signale Organfunktionen beeinflussen. Die Tiefenhirnstimulation etwa diente bisher vor allem dazu, bei Parkinson das unkontrollierte Zittern zu unterdrücken. Neue Untersuchungen zeigen jedoch, dass die Methode auch gegen Alzheimer wirkt und dort kognitive Defizite beheben könnte (siehe S. 40). Ähnliches gilt für die Elektrostimulatoren des Vagusnervs. Sie kamen zwar bereits in den 90er- Jahren auf den Markt, um Epilepsie und Depressionen zu bekämpfen. Doch lange war nicht klar, warum sie funktionierten. "Das aber ändert sich gerade", sagt Ludwig.

Daraus ergeben sich völlig neue Perspektiven. Neuronale Schaltkreise steuern fast alle Organe und Körperfunktionen wie die Atmung, den Blutdruck und sogar das Immunsystem mit, zum Beispiel bei rheumatoider Arthritis. Die Nerven kurbeln ihre Aktivität an (sympathisches Nervensystem) oder bremsen sie (parasympathisches Nervensystem, zu dem auch die meisten Vagusfasern gehören). Medizinisch ist vor allem das zweite System interessant, weil sich darüber viele Gesundheitsprobleme lindern lassen, die auf überschießenden Körperfunktionen beruhen.

Hoher Blutdruck ist dafür ein hervorragendes Beispiel: Nach Rauchen und zu starkem Alkoholkonsum ist er das dritthöchste Gesundheitsrisiko. Auf Dauer verursacht Bluthochdruck Organschäden, zum Beispiel an Augen, Nieren, Herz und dem zentralen Nervensystem. Normalerweise behandeln ihn Ärzte mit Medikamenten. Doch bei etwa einem Drittel der Patienten lässt er sich nicht auf diese Weise beeinflussen. Ihnen wollen der Neurowissenschaftler Plachta und Elektroingenieur Stieglitz mit ihrem Implantat helfen.

Es gibt zwar bereits Elektrostimulatoren, um den Blutdruck zu senken, etwa jene der US-Firma CVRx. Sie aber liegen direkt an den natürlichen Blutdrucksensoren der Halsschlagadern. Die Methode kann Plachta zufolge langfristig ernste Probleme verursachen. Die Elektroden können einwachsen und das Gefäß verengen. Wenn das passiert, lassen sie sich weder gefahrlos entfernen, noch ist Platz für eine neue Elektrode.

Das System der beiden Freiburger dagegen umgeht das Problem, indem es nicht die Blutgefäße, sondern die verantwortlichen Nerven ins Visier nimmt. Das Gerät analysiert, welche der 24 Elektroden jenen Fasern am nächsten liegen, die das Blutdrucksignal ans Gehirn melden. Nur diese Elektroden überschreiben das Signal und gaukeln dem Gehirn vor, der Blutdruck sei noch viel größer. Daraufhin antwortet die Schaltzentrale mit einem Bremssignal. Zudem wählten die Forscher den Abstand der Elektroden so klein, dass deren Pulse unbeteiligte Fasern nicht mitreizen können. So konnten sie den Blutdruck um bis zu 30 Prozent senken, ohne gleichzeitig Nebenwirkungen auszulösen.

Noch ist die Handhabung vieler stimulierender Implantate allerdings nicht ideal: Zum einen besitzen nicht alle wiederaufladbare Batterien. Sind sie also leer, müssen sie in einer weiteren Operation ausgetauscht werden. Zum anderen verbinden Kabel die Stromquelle mit den Elektroden. Sie können mit der Zeit brechen, erneut wäre ein Eingriff nötig. Und drittens werden die Stromimpulse oft überhaupt nicht geregelt, die Stimulationsgeräte passen sich also nicht an veränderte Parameter an und erfassen diese auch nicht. Denn der Blutdruck schwankt mit der körperlichen Aktivität. Er steigt, wenn der Patient rennt, und sinkt, wenn er sitzt. Das zu erkennen und die Stimulation darauf abzustellen, wäre für eine gute Therapie essenziell.

Das ultimative Ziel der Freiburger sind daher winzige, intelligente und nachladbare Implantate, die nicht starr einem programmierten Muster folgen, sondern erkennen, wann und wie sie aktiv werden müssen und sich den Patienten individuell anpassen. Erste Schritte dahin dahin haben Plachta und Stieglitz schon unternommen: Bei ihren Ratten senkten sie den Blutdruck in Se-kundenschnelle, wenn die Hochdruckspitzen stark ausgeprägt waren. Ansonsten wählten sie eine sanftere Regulation über drei bis fünf Minuten.