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Kleinere Firmen haben selten Geld für eigene Nachwuchsprogramme. Deshalb wollen sie gemeinsam im Programm "Zukunft MINT" Schüler für ein Studium der Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften oder Technik begeistern. So möchten sie früh exzellenten Nachwuchs für sich gewinnen.

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Von
  • Susanne Donner
Inhaltsverzeichnis

Kleinere Firmen haben selten Geld für eigene Nachwuchsprogramme. Deshalb wollen sie gemeinsam im Programm "Zukunft MINT" Schüler für ein Studium der Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften oder Technik begeistern. So möchten sie früh exzellenten Nachwuchs für sich gewinnen.

Die hochgewachsene Evangelia Karakoliou lässt den Hammer donnernd auf eine Eisenplatte krachen. "Okay, den nächsten Schlag", ruft ihr der Geowissenschaftler Albrecht Schulze zu. Karakoliou hebt den Hammer, der ihr bis zur Hüfte reicht, und lässt ihn wieder sausen. "Das war aber schwach", ruft Schulze. "Mädel, Mädel, Mädel, mehr essen!"

Karakoliou lässt ihren Kräften nicht sinnlos freien Lauf. Sie gehört einer Schülergruppe an, die mit den Hammerschlägen hilft, den Untergrund zu ergründen. Von der Eisenplatte aus zieht sich ein Kabel 200 Meter über den Telegrafenberg des GeoForschungsZentrums Potsdam. Alle zehn Meter misst ein sogenanntes Geophon die in der Erde erzeugten Vibrationen.

Je nachdem, wie der Untergrund beschaffen ist, breiten sich die Erschütterungswellen von Karakolious Hammerschlägen unterschiedlich schnell aus. Aus diesen Daten ermitteln die Schüler mit einem Auswertungsprogramm, ob unter ihren Füßen Sand, Granit oder Gneis liegt. Mit der Methode lässt sich zudem erkennen, welches Material in welcher Tiefe vorherrscht.

In diesem Fall ist das Ergebnis nicht überraschend, steht es doch in jedem Geoatlas: Das GeoForschungsZentrum mit seinen schmucken Backsteinbauten ist auf Sand gebaut. Doch darum geht es an diesem 8. Juni ohnehin nicht vorrangig. Albrecht Schulze will den 30 Jugendlichen die Geowissenschaften schmackhaft machen, um sie für das entsprechende Studium zu begeistern. Die Schüler aus Wiesbaden nehmen zusammen mit Altersgenossen aus der westungarischen Stadt Győr am Projekt "Zukunft MINT" des Campus of Excellence teil.

In der Förderinitiative Campus of Excellence haben sich knapp 100 Unternehmen, Verbände, Hochschulen und Schulen mit dem Ziel zusammengeschlossen, um junge Absolventen mit Arbeitgebern in Kontakt zu bringen. Dafür vergibt der Campus Praktikumsstipendien, organisiert Sommerschulen und Workshops. Mit von der Partie sind namhafte Institutionen wie Audi, die Commerzbank, die Kreditauskunftei Schufa und die Fraunhofer-Gesellschaft. Durch gute Kontakte einiger Förderpartner nach Ungarn und Polen wurde das Programm auch für Schüler aus diesen Ländern erweitert.

Die Idee für "Zukunft MINT" reicht ins Jahr 2007 zurück. Noch bevor der Fachkräftemangel zum großen Bildungsthema wurde, klagten etliche Partner des Campus of Excellence über zunehmenden Mangel an Ingenieuren. Heute gilt ihre Besorgnis als bestätigt: Nach einer aktuellen Studie des Instituts der Deutschen Wirtschaft und des Vereins Deutscher Ingenieure fehlen hierzulande mehr als 100000 dieser Spezialisten. Allein 2011 entstand der Wirtschaft dadurch ein Schaden von acht Milliarden Euro. Für die Partner des Campus stand schon 2007 fest, dass sie früh ansetzen müssen, schon bei den Schülern.

So entstand ein außergewöhnliches Orientierungs- und Betreuungsprojekt für Schüler ab der elften Klasse. Wer gute Noten hat, den Auswahltest besteht und an MINT-Fächern (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik) interessiert ist, kommt infrage. "Bei der Auswahl achten wir aber auch darauf, dass gleich viel Jungs und Mädchen teilnehmen", sagt Cornelia Unglaube, Geschäftsführerin des Campus of Excellence. "Zudem geben wir sozial schwächer gestellten Bewerbern sowie Schülern mit Migrationshintergrund den Vorrang." Das Projekt endet nicht mit dem Abitur. Die Schüler werden insgesamt fünf Jahre betreut. Im Studium steht ihnen ein persönlicher Mentor zur Seite. In Workshops und Praktika lernen sie außerdem die Partner des Campus und potenzielle spätere Arbeitgeber kennen.

Für die 30 Schüler aus Wiesbaden und Győr ist der dreitägige Ausflug in die Welt der Seismik nur ein Programmpunkt unter vielen. Sie bestreiten gerade das zweite Jahr des Projekts "Zukunft MINT". Am Vorabend des schweißtreibenden Hämmerns stand "Business-Etikette" auf der Agenda. Bei einem Drei-Gänge-Menü brachte Sissy Thammer, Intendantin des "Festivals junger Künstler" in Bayreuth, den Schülern die Benimmregeln der Geschäftsleute nahe. Dabei ging es um mehr als um Höflichkeit. Die meisten Jugendlichen speisten zum ersten Mal mit unterschiedlichen Gedecken für Vorspeise und Hauptgang.

In Rollenspielen lernten sie beispielsweise, was zu tun ist, wenn bei einem privaten Restaurantbesuch unvermittelt der Chef eintritt: aufstehen, Blickkontakt aufnehmen und mit Handschlag begrüßen. "Wenn man keine Manieren hat und sich nicht präsentieren kann, dann bleibt man auf dem Berufsweg ganz schnell stecken", sagt etwa die 17-jährige Schülerin Katharina Baumgart aus Wiesbaden.

Am dritten Tag des Workshops in Berlin steht darüber hinaus auch Projektmanagement auf der Agenda. Damit bereiten sich die Schüler unter anderem auf ihr dreiwöchiges Praktikum vor, in dem sie ein eigenständiges Projekt an einem Institut oder in einem Unternehmen durchführen. Katharina Baumgart aus Wiesbaden etwa erforscht am Leibniz-Institut für Plasmaforschung und Technologie in Greifswald mit ihrer Mitschülerin Laura Toron, wie statische und gepulste elektrische Felder auf Pflanzen wirken. "Wir haben verschiedene Kressekulturen angepflanzt und diese unterschiedlich starken und langen elektrischen Pulsen ausgesetzt", erklärt Baumgart. Danach protokollieren beide, wie sich das Wachstum und der Ertrag der Pflanzen verändert. In Japan dienen elektrische Felder als eine Art Dünger für die kommerzielle Shiitakepilz-Zucht, da die Pflanzen dann offenbar schneller wachsen. "Uns gefällt es hier sehr gut, insbesondere da wir sehr eigenständig arbeiten konnten und in alle Prozesse eingebunden waren", erzählt Baumgart.

An der Nahtstelle zwischen Biologie und Physik in der Forschung zu arbeiten, kann sich Baumgart für die Zukunft gut vorstellen. Sie interessiert sich allerdings nicht nur für Naturwissenschaften, sondern hat noch viele andere Interessen: Als Leistungskurse belegt Baumgart Französisch und Englisch. Sie spielt zudem Saxofon und Klavier und seit vielen Jahren Volleyball. "Ich bastele auch gern, und auch Zeichnen, Fotografie und Design gefallen mir sehr." Es wäre ein Erfolg für die Förderinitiative, wenn sich noch Unentschlossene wie Baumgart für ein MINT-Fach entscheiden. Nach den bisherigen Erfahrungen wählen tatsächlich 70 bis 80 Prozent ein solches Studium.

Oft folgen die Schüler schon bei der Wahl des Praktikums ihren späteren Präferenzen. Mathefans lädt die Schufa in Wiesbaden zum Praktikum ein, um einen Einblick in die Arbeit des Unternehmens zu bekommen. Etliche Fraunhofer- und Leibniz-Institute bieten den Heranwachsenden ein dreiwöchiges Projekt in verschiedenen Fachrichtungen an. MaschinenbauPassionierte können sich bei Audi Ungarn in Győr bewerben.

Audi baut sein Motorenwerk in der Stadt gerade zum kompletten Automobilwerk aus. Im Mai feierte der Konzern das Richtfest. Bald sollen dort nicht nur Motoren, sondern auch Fahrzeuge vom Band rollen. Allein dieses Jahr sucht das Unternehmen daher 1200 neue Mitarbeiter. "Zukunft MINT bietet uns die Chance, potenzielle Arbeitnehmer schon in der Schule zu entdecken", sagt Personalmarketingchefin Manuela Meske-Schubert aus Győr. Eine Wildcard für den Berufseinstieg ist das dennoch nicht. Die Personalchefin stellt klar: "Wenn ein vielversprechender Kandidat nur mit Ach und Krach durchs Studium kommt, werden wir uns von ihm trennen."

Die eigentliche Stütze des Nachwuchsprogramms sind allerdings nicht die großen Firmen, sondern der Mittelstand. Diese Unternehmen sind den Absolventen oft wenig bekannt. Und sie sind auch nicht in der Lage, Studenten mit teuren Kampagnen an den Universitäten anzuwerben. Überdies sitzt der große Teil des deutschen Mittelstands in kleinen Städten, in denen nicht jeder Arbeitssuchende leben möchte. Diese Nachteile auf dem Arbeitsmarkt versucht "Zukunft MINT" in Vorteile zu verwandeln. Die Organisatoren des Projekts wählen gezielt Partnerschulen in regionaler Nähe zu den Partnerunternehmen aus.

Da die Schufa in Wiesbaden sitzt, sind auch zwei Wiesbadener Schulen mit an Bord. Das Nachwuchsprogramm bietet den Unternehmen damit eine Plattform: Sie stellen sich den Schülern vor und können sogar auf einen Standortvorteil hoffen. Denn viele junge Menschen bevorzugen allen Bekundungen zur Mobilität zum Trotz einen Arbeitsplatz nahe der Heimat.

Umsonst ist Zukunft MINT für die Partner allerdings nicht: Je Schüler und Jahr müssen sie 2000 Euro an den Campus of Excellence überweisen, um dessen Kosten zu decken. "Es ist nicht leicht, Geldgeber zu finden. Der Finanzier muss sich auch für fünf Jahre, also für die gesamte Laufzeit des Projekts, festlegen", so die geschäftsführende Gesellschafterin des Campus of Excellence, Cornelia Unglaube. Im Gegenzug haben die Förderer aber beispielsweise Zugang zu allen Bewerberdaten samt Lebensläufen und Schulabschlüssen. Sie kaufen quasi ein Abo für ein Netzwerk möglicher Nachwuchskräfte.

Der Campus of Excellence setzt alles daran, dass niemand aus diesem Netz fällt. Erklärtes Ziel ist es etwa, Studienabbrüche in den MINT-Fächern zu verhindern. Denn in den Naturwissenschaften und Technikfächern sind Abbrecherquoten von 50 Prozent die Regel. Um solche Brüche im Lebenslauf zu vermeiden, sollen die Schüler nicht ahnungs- und orientierungslos in ein Studium schlittern. Deshalb bekommt jeder Teilnehmer vor dem Studium einen Mentor aus demselben oder einem verwandten Fach. Sogar die Chefin betreut mit: Christiane Unglaube kümmert sich um einen jungen Medienwissenschaftler, der sich kurz vor dem Abitur doch noch gegen ein MINT-Fach entschied. Einmal im Monat treffen sie sich in Hof im Allgäu. Sie half ihm bei der Wahl der Hochschule, indem sie mit ihm die Uni-Rankings und Curricula analysierte. Die Wahl fiel schließlich auf Würzburg. Zuletzt verhalf sie ihrem Mentee zu einem Praktikum beim Axel Springer Verlag, der ebenfalls Partner im Campus of Excellence ist. Der Fall zeigt: Auch wer keine MINT-Karriere einschlägt, wird konsequent gefördert.

Darüber hinaus sollen die Dozenten den Schülern ein realistisches und ungeschöntes Bild ihres Fachs geben. So ist es wohl auch zu erklären, dass Albrecht Schulze durch seine Geophysik-Präsentation rauscht und Fachbegriffe wie Plattentektonik, S- und P-Wellen bei Erdbeben, Differenzialgleichungen und die Funktionsweise des Geophons nur kurz abhandelt. Auch das Foto einer Frau, die ins Meer rennt, während eine Tsunamiwelle auf sie zurollt, kommentiert er nur trocken: "Die hat von Geophysik leider keine Ahnung."

Die Schüler halten der Belastungsprobe trotz Müdigkeit vom Business-Etikette-Abend wacker stand. Sie lauschen still und aufmerksam und haben auf so manche von Schulzes Fragen kluge Antworten parat. Wie schnell driften die tektonischen Platten? Zwei Mädchen in der vordersten Reihe bieten einen Zentimeter und wenige Millimeter an. "Schon ganz gut", quittiert Schulze. Es sind bis zu zehn Zentimeter pro Jahr. "Das ist etwa die Geschwindigkeit, mit der eure Fingernägel wachsen." Zwei andere Mädchen haben sogar schon ein Erdbeben erlebt: "Das ganze Haus hat gewackelt. Mein Vater dachte erst, der Nachbar ist hineingefahren."

Geophysik ist kein Experimentalvergnügen. Das wird den Heranwachsenden spätestens klar, als ein Regenguss sie auf dem Telegrafenberg überrascht, während sie die Geophone einsammeln wollen. Für Schulze ist das der typische Forscher-Alltag. Er hat sich in der Wildnis von Namibia schon mit diebischen Schakalen herumgeärgert, die nachts die Geräte ausgruben. Er stiefelt daher unbeeindruckt durch efeubewachsenen Wald, während sich zwei Schülerinnen über Zecken Sorgen machen.

Als Schulze am späten Nachmittag erzählt, welche Berufe Geowissenschaftler ergreifen können, richten sich die Jugendlichen aufmerksam auf. Die Erdölindustrie in den USA boome, dort würden Absolventen zurzeit mit Handkuss genommen. Doch das schwanke konjunkturell stark. Ein typisches Auswanderungsland für Geowissenschaftler sei Norwegen aufgrund der zahlreichen Ölquellen. In der Forschung sind die Stellen dünn gesät, aber Versicherungen und die Bauindustrie bräuchten Geowissenschaftler, um den Untergrund und Bebenrisiko einzuschätzen. Wasser, Erdwärme und Katastrophenschutz in Großstädten hält Schulze ebenfalls für große Zukunftsthemen.

"Da merkt man erst, wie viele Türen einem offenstehen", sagt die Schülerin Katharina Baumgart. Sie hat sich bisher noch nicht für ein Studienfach entschieden. Aber sie wünscht sich, eines Tages ihr naturwissenschaftliches Interesse mit ihrer kreativen Ader und ihrer Liebe für Fremdsprachen zu verknüpfen. "Ich wäre ziemlich unglücklich, wenn ich mich auf eine Sache versteifen müsste." (bsc)