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Wie geht es weiter mit der Pandemie? Diese Faktoren sind wichtig

Jo Schilling

(Bild: 1take1shot/Shutterstock.com)

Die Gesellschaft ist pandemiemüde, die Impfquoten sind unbefriedigend, die Masken und Teststäbchen fallen – das könnte der vierten Welle neuen Schwung geben.

Ja, wir stecken noch mitten in einer Pandemie, auch wenn es sich inzwischen nicht mehr so richtig danach anfühlt. Der Umgang mit Masken wird sorgloser, die Kontrollen von 2G oder 3G werden teilweise sehr entspannt gehandhabt, Schulkinder sollen demnächst ohne Masken beschult werden. Da kommen vermeintliche "goodnews" über unterschätzte Impfquoten von 84 (Erstimpfung) beziehungsweise 80 Prozent ( [1]doppelt geimpft), wie sie vor einigen Tagen kursierten gerade recht. Aber sie ändern leider nichts an den Tatsachen. Sie treiben nur das Robert-Koch-Institut in eine Rechtfertigungsrolle über verwirrende Rechenakrobatik und Schönfärberei.

Um mit der Impfquote anzufangen: Eine Pandemie ist ein weltumspannender Vorgang. Also ist es für unsere eigene Sicherheit wichtig, dass möglichst viele Menschen auf der Welt geimpft sind, um dem Virus seine Lebensgrundlage zu entziehen (wobei in der Wissenschaft durchaus strittig ist, ob ein Virus zu den Lebewesen zählt. Häufig werden Viren auch schlicht als "Partikel" bezeichnet.)

Wenn man sich die internationalen Impfstatistiken [2] ansieht, haben viele Länder eine Impfquote unter zehn Prozent. In armen Ländern beträgt die Quote der Erstimpfungen gerade einmal 2,5 Prozent. Der Blick in die USA [3] zeigt eine Durchimpfung von knapp 56 Prozent und eine Inzidenz von 187,5. Beispiel Großbritannien: 66,3 Prozent der Menschen waren am 14. Oktober vollständig geimpft, aber das Fallenlassen sämtlicher Sicherheitsmaßnahmen hatte eine Inzidenz von 392 zur Folge und eine deutlich höhere Hospitalisierungsrate als in den anderen europäischen Ländern. Die Pandemie ist also definitiv nicht vorbei, obwohl Impfstoffe zur Verfügung stehen.

Die Impfquote allein ist also offenbar nicht ausschlaggebend für die Inzidenz und Hospitalisierungsrate. Auch der alltägliche Umgang mit der Infektionsgefahr ist ein zentraler Faktor. Die britische Impfquote ist unserer ähnlich, aber ohne Schutzmaßnahmen. Unsere Inzidenz liegt jedoch dank Masken, der unterschiedlichen Gs, dem Abstandsgebot und der bis vor wenigen Tagen gefahrenen Teststrategie bei 67 und nicht fast 400.

Und damit sind wir bei den erwähnten, geschönten deutschen Impfquoten. Die deutsche Impfquote liegt bei gut 65 Prozent der Gesamtbevölkerung und nicht bei den vermeintlichen 80 Prozent. Die Zahlenspielerei, die hinter dieser vermeintlichen Impfquote steckt ist ein wenig komplex: Wissend, dass das offizielle Impfmonitoring Unsicherheiten enthält – etwa bei den Meldungen von niedergelassenen Ärzten und Betriebsärzten – hat das RKI eine kleine, interne Nebenstudie laufen, die auf Telefonumfragen basiert. Allerdings hat diese Studie ein "Selection Bias"-Problem. Die Studie wurde ausschließlich deutschsprachig durchgeführt, obwohl die Impfquoten gerade in der nicht-deutschsprachigen Bevölkerung besonders niedrig sind. Zudem sind Menschen, die Fragen am Festnetztelefon beantworten nicht repräsentativ für die Bevölkerung. Und umgekehrt neigen Menschen, die sich nicht impfen lassen, eher dazu eine Befragung abzulehnen. Die Werte aus dieser Studie sind also per se zu hoch – etwas, das dem RKI durchaus bewusst ist, und was das RKI bereits im Sommer in seinem COVIMO-Report [4] dargelegt hat.

Ebenfalls verwirrend sind die Bezüge, die in der Korrekturrechnung genommen werden. Wer genau hinsieht, liest, dass sich die 80 Prozent Impfquote auf die Erwachsenen bezieht. Die Zahl der geimpften Erwachsenen ist jedoch höchstens für die zu erwartenden Hospitalisierungen relevant, da Erwachsene schwerere Verläufe zu erwarten haben, als Kinder und Jugendliche. Was für die Eindämmung des pandemischen Geschehens einzig zählt, ist jedoch der Impfstatus der Gesamtbevölkerung.

Mehr von MIT Technology Review Mehr von MIT Technology Review [5]

Macht man sich nun die Mühe, die Dosen, die an niedergelassene und Betriebsärzte ausgeliefert wurden, als verimpft zu verbuchen und die offiziellen Meldezahlen um diese Werte zu korrigieren, läge die Impfquote nach wie vor deutlich unter 70 Prozent. Damit ändert sich also nichts und die ganze "goodnews" Debatte verpufft auf dem Display des Taschenrechners. Die Zielmarke ist eine Quote von 85 Prozent bei den 12- bis 59-Jährigen und von mindestens 90 Prozent bei den über 60-Jährigen.

Die Inzidenz ist allerdings nicht mehr das Maß aller Dinge – die Hospitalisierungsraten sind die Zahl der Saison. Derzeit werden knapp 1.300 Menschen intensivmedizinisch in deutschen Krankenhäusern behandelt. Die Rückmeldungen aus den Kliniken sind, dass es vor allem die Ungeimpften trifft oder Geimpfte, die ein anderes schweres gesundheitliches Problem haben – etwa eine Transplantation hinter sich haben oder aus anderen Gründen ein schwaches Immunsystem haben, bei dem der Schutz durch die Impfung nicht stark genug aufgebaut wurde. Aber auch die Hospitalisierungsrate hat ihre Tücken. Eine Analyse des NDR [6] hat ergeben, dass die Übermittlung der Hospitalisierungsdaten einen Verzug von drei Wochen hat und damit im Prinzip keine Aussage über die aktuelle Gefährdungslage treffen kann.

Ein weiterer Fallstrick bei diesem Leitwert sind die Krankenhäuser selbst. Schwerkranke COVID-Patienten brauchen Behandlungen, die in der Regel nur große Kliniken – meist Universitätskliniken – leisten können. Also ist eine generelle Krankenhausbelastungsquote kein Indikator für die Auslastung der Kliniken in der COVID-Behandlung, denn in der Gesamtlandschaft der deutschen Kliniken machen die 35 Universitätskliniken gerade einmal zwei Prozent der Krankenhäuser aus.

Diese Bias-Fallen könnte das geplante DEMIS-Projekt [7] (für Deutsches Elektronisches Melde- und Informationssystem für den Infektionsschutz) auflösen, aber das befindet sich gerade in den ersten Ausbaustufen und ist noch nicht flächendeckend ausgerollt.

Mit diesen Widrigkeiten – zu geringe Durchimpfung, schlechtes Monitoring und wenig aussagekräftige Kennwerte – gehen wir nun in die nächste Virussaison. Blickt man ein Jahr zurück, hat die Situation etwas von einen Dejà vu: Herbstferien und Reiselust sorgen für eine kräftige Durchmischung von Virenträgern. Nasskaltes Wetter treibt uns in die geschlossenen Räume. Der Unterschied zum letzten Jahr ist der Impfstoff, der nicht ausreichend genutzt wird und dass Tests inzwischen kostenpflichtig sind. Vermutlich werden nach den Ferien auch die Kinder ohne Masken in den Schulen sitzen und die Viren, die sie aus Spanien oder anderen Reiseländern mitgebracht haben, untereinander verteilen. Die Erwachsenen streuen sie beim Glühwein auf dem Weihnachtsmarkt, der dieses Jahr wieder stattfindet.

Was Lockerungen innerhalb kurzer Zeit für Auswirkungen haben können, zeigt sich gerade eindrucksvoll in den Niederlanden. Mit einer Impfquote von 68 Prozent haben die Niederländer vor ziemlich genau einem Monat einen Großteil der Corona-Einschränkungen über Bord geworfen. Jetzt haben sich die Infektionszahlen innerhalb einer Woche verdoppelt und die Lage in den Kliniken gilt bereits als besorgniserregend.

(jsc [8])


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Links in diesem Artikel:
[1] https://www.spektrum.de/news/corona-impfquote-in-deutschland-liegt-womoeglich-hoeher/1934542
[2] https://ourworldindata.org/covid-vaccinations?country=OWID_WRL
[3] https://www.corona-in-zahlen.de/weltweit/vereinigte%20staaten/
[4] https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Projekte_RKI/COVIMO_Reports/covimo_studie_bericht_6.pdf?__blob=publicationFile
[5] https://www.heise.de/tr/
[6] https://www.ndr.de/nachrichten/info/Hospitalisierungsrate-zeigt-nur-noch-die-Haelfte-der-Corona-Patienten,hospitalisierungsrate102.html
[7] https://www.rki.de/DE/Content/Infekt/IfSG/DEMIS/DEMIS_node.html
[8] mailto:jsc@heise.de