Pro & Contra: Sollte man eine Corona-Impfpflicht einführen?

Die Technology-Review-Redakteure Wolfgang Stieler und Gregor Honsel diskutieren über die Frage, ob die Verpflichtung zur Vakzinierung in der Pandemie sein muss.

In Pocket speichern vorlesen Druckansicht 1808 Kommentare lesen

(Bild: M-Foto/Shutterstock.com)

Lesezeit: 6 Min.
Inhaltsverzeichnis

Sollte man in Deutschland die Menschen dazu verpflichten, sich gegen das Coronavirus impfen zu lassen? Diese Frage stellen sich Mediziner und Gesundheitspolitiker gleichermaßen – und die Bürger natürlich auch. Die Technology-Review-Redakteure Wolfgang Stieler und Gregor Honsel legen ihre Position zum Thema dar.

Ich bin für die Pflicht, sich gegen COVID-19 impfen zu lassen, es sei denn, es sprächen medizinische Gründe dagegen. Zugegeben, es gibt ernsthafte juristische und philosophische Argumente gegen eine Impfpflicht. Denn schließlich ist auch eine Impfung ein Eingriff in die körperliche Unversehrtheit. Und es lassen sich lange, komplizierte Debatten darüber führen, wie persönliche Interesse gegen Gemeinwohl aufzuwiegen sind. Aber auf diese Diskussionen will ich hier gar nicht eingehen. Worauf ich vielmehr eingehen möchte, ist eine für mich naheliegende Frage: Warum eigentlich nicht?

Der Humangenetiker Wolfram Henn, Mitglied im Deutschen Ethikrat, hat das Argument in einem Gastbeitrag für die Augsburger Allgemeine kurz und prägnant zusammen gefasst: „Die Entscheidung, sich impfen zu lassen, ist kein moralisches Dilemma, denn mit einer Impfung tut man sich selbst genauso etwas Gutes wie Anderen“, schreibt er. „Es ist vieltausendfach wahrscheinlicher, durch die Krankheit Schaden zu nehmen als durch die Impfung. Also ist es vernünftig, sich impfen zu lassen, und unvernünftig, sich nicht impfen zu lassen.“

Wolfgang Stieler

An dieser Stelle sehe ich schon die Impfgegner aufschreien. Die jüngsten Impfdurchbrüche würden doch zeigen, dass die Impfungen gar nicht wie versprochen funktionieren, argumentieren sie. Dem gegenüber stünde das Risiko von Nebenwirkungen, die – wie man ja bei AstraZeneca gesehen habe – auch durchaus tödlich sein können. Und überhaupt gäbe es ja noch keinerlei Langzeituntersuchungen zu den möglichen Folgen solch einer Impfung und die mRNA-Technologie sei ja auch vollkommen neu. Wenn nun also bei steigenden Infektionszahlen nicht einmal die Bettenbelegung in den Intensivstationen steige, wozu solle man dann das Risiko eingehen?

Ich habe diese Argumentation nicht deshalb so ausführlich wiedergegeben, weil ich sie verbreiten möchte, sondern weil in der Zusammenschau der sogenannten Argumente besonders deutlich wird, was für eine Denke dahinter steckt: Die Suche nach einer bösen Absicht. Irgendjemand, denkt der Impfskeptiker, versucht doch ganz bestimmt, mich hier über den Tisch zu ziehen. Die Pharma-Industrie vielleicht, die Millionen und Millionen scheffelt, oder die außer Rand und Band geratenen Sicherheitskräfte, für die die Pandemie ein probater Vorwand ist, um demokratische Grundrechte zu beschneiden. Das kann doch alles kein Zufall sein.

Doch, kann es. Wenn eine Abfolge evolutionärer Zufälle dafür sorgen kann, dass ich hier vor diesem Rechner sitze und einen Text eintippe, kann ein bisschen mehr Zufall auch dafür sorgen, dass sich ein Fledermaus-Virus in Menschen sehr wohl fühlt. Wenn ein Impfstoff zu – sagen wir mal – 90 Prozent wirkt, funktioniert er bei zehn Prozent der Geimpften nicht. Je mehr Geimpfte es gibt, desto mehr „Impfdurchbrüche“ wird es geben. Das ist keine geheimnisvolle Entwicklung, keine Manipulation der Öffentlichkeit, keine Verschwörung der Pharma-Industrie – das ist Statistik.

Biologische Systeme sind nun mal verdammt komplex und wir wissen wenig darüber. Dennoch ist es möglich, sich auch in einer gefährlichen Situation rational zu verhalten. Und zwar auch, wenn man mit unvollständigem Wissen arbeiten muss und sich die äußeren Bedingungen ständig ändern: Man handelt einfach so, dass der potenziell entstehende Schaden – für sich und andere – möglichst klein wird. Und das bedeutet in der gegenwärtigen Situation nun mal, sich impfen zu lassen. So zu handeln, ist im besten Sinne „vernünftig“. Es bedeutet, den eigenen Kopf zum Denken zu verwenden, um der selbstverschuldeten Unmündigkeit zu entkommen. (Wolfgang Stieler)