Detailliertester Atlas des menschlichen Gehirns erstellt

Forscher der BRAIN-Initiative haben einen 3D-Atlas des Gehirns von Menschen und nichtmenschlichen Primaten mit bisher nie dagewesener Auflösung vorgestellt.

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(Bild: metamorworks / Shutterstock.com)

Lesezeit: 6 Min.
Von
  • Cassandra Willyard
Inhaltsverzeichnis

Als Wissenschaftler zum ersten Mal Hirngewebe unter dem Mikroskop betrachteten, blickten sie auf ein undurchdringliches und ungeordnetes Durcheinander. Santiago Ramon y Cajal, der Vater der modernen Neurowissenschaften, verglich die Erfahrung damit, in einen Wald mit hundert Milliarden Bäumen zu gehen, "jeden Tag verschwommene Teile einiger dieser Bäume zu betrachten, die ineinander verschlungen sind, und nach ein paar Jahren zu versuchen, einen illustrierten Feldführer für den Wald zu schreiben", wie die Autoren in dem Buch "The Beautiful Brain" über Cajals Arbeit schreiben.

Nun liegt Wissenschaftlern der erste Entwurf dieses Reiseführers vor. In 21 neuen Fachartikeln, die in drei Fachzeitschriften veröffentlicht wurden, berichten die beteiligten Teams, dass sie groß angelegte Ganzhirn-Zellatlanten für Menschen und nichtmenschliche Primaten erstellt haben. Diese Arbeit ist der Höhepunkt von fünf Jahren Forschung. "Es ist nicht nur ein Atlas", sagt der Neurowissenschaftler Ed Lein vom Allen Institute for Brain Science, der einer der Hauptautoren ist. "Es eröffnet wirklich ein ganz neues Feld, in dem man jetzt mit extrem hoher zellulärer Auflösung in die Gehirne von Arten schauen kann, bei denen das in der Vergangenheit nicht möglich war."

Ein Hirnatlas ist eine 3D-Karte des Gehirns. Es gibt bereits einige Hirnatlanten, aber diese neue Artikelreihe bietet eine noch nie dagewesene Auflösung des gesamten Gehirns von Menschen und nichtmenschlichen Primaten. Der menschliche Hirnatlas enthält die Lage und Funktion von mehr als 3.000 Zelltypen bei erwachsenen und sich noch entwickelnden Individuen. "Dies ist bei weitem die vollständigste Beschreibung des menschlichen Gehirns auf dieser Ebene und die erste Beschreibung für viele Hirnregionen", sagt Lein. Trotzdem ist es immer noch ein erster Entwurf.

Die Arbeit ist Teil des BRAIN Initiative Cell Census Network der US-Gesundheitsbehörde National Institutes of Health. Sie wurde 2017 mit dem Ziel gestartet wurde, einen umfassenden 3D-Referenz-Gehirnzellenatlas für Mäuse zu erstellen. Dieses Projekt ist immer noch in Arbeit. Die am 12. Oktober vorgestellten Ergebnisse stammen aus Pilotstudien, die überprüfen sollten, ob die bei Mäusen angewandten Methoden auch bei größeren Gehirnen funktionieren würden. Das Ergebnis: Sie haben sogar sehr gut funktioniert.

Der tiefere Blick ins Gehirn

Das menschliche Gehirn ist sehr komplex. Bislang haben die Teams mehr als 3.300 Zelltypen identifiziert. Wenn die Auflösung noch größer wird, woran die Forscher gerade arbeiten, werden sie wahrscheinlich noch viel mehr Arten entdecken. Bei der Erstellung des Mäusegehirn-Atlasses, der bereits weiter fortgeschritten ist, wurden sogar 5.000 Zelltypen identifiziert. (Weitere Informationen finden sich in diesen Vorabdrucken: 1 und 2)

Doch hinter dieser Komplexität verbergen sich einige Gemeinsamkeiten. Viele Regionen haben beispielsweise die gleichen Zelltypen, allerdings in unterschiedlichen Anteilen. Zudem ist der Ort, an dem sich diese Komplexität befindet, überraschend. Die Neurowissenschaft hat sich in ihrer Forschung weitgehend auf die äußere Hülle des Gehirns konzentriert, die für Gedächtnis, Lernen, Sprache und vieles mehr verantwortlich ist. Der Großteil der zellulären Vielfalt befindet sich jedoch in älteren evolutionären Strukturen tief im Inneren des Gehirns, sagt Lein.

Der klassische neurowissenschaftliche Ansatz zur Klassifizierung von Zelltypen stützt sich entweder auf die Form der Zelle (man denke an die sternförmigen Astrozyten) oder auf die Art der Zellaktivität (etwa schnell-spikende Interneuronen). "Diese Zellatlanten nutzen eine neue Reihe von Technologien, die aus der Genomik stammen", sagt Lein, vor allem auch die sogenannte Einzelzellsequenzierung.

Die genetische Untersuchung beginnt mit einem kleinen Stück gefrorenen Hirngewebes aus einer Biobank. "Man zerkleinert das Gewebe und erstellt ein Profil von vielen Zellen, um zu versuchen, es zu verstehen", sagt Lein. Dazu wird die DNA der Zellkerne sequenziert, um zu sehen, welche Gene exprimiert werden. "Jeder Zelltyp hat einen kohärenten Satz von Genen, die er typischerweise verwendet. Man kann alle diese Gene aufzeichnen und dann alle Zelltypen auf der Grundlage ihres allgemeinen Genexpressionsmusters gruppieren", sagt Lein. Anhand der Bildgebungsdaten des Spendergehirns können sie diese funktionellen Informationen dann räumlich zuordnen.

Dafür gibt es sehr viele Möglichkeiten. Ein wichtiger Einsatzbereich ist jedoch das Verständnis der Grundlagen von Gehirnerkrankungen, ein Ziel übrigens, das langfristig auch das kürzlich abgeschlossene "Human Brain Project" verfolgt hatte. Ein menschlicher Referenz-Gehirnatlas, der ein normales oder ein sogenanntes neurotypisches Gehirn beschreibt, könnte Forschern helfen, Depressionen, Schizophrenie oder viele andere Krankheiten zu verstehen, sagt Lein. Man könnte etwa dieselben Methoden anwenden, um die Gehirne von Menschen mit unterschiedlichem Schweregrad der Alzheimer-Krankheit zu charakterisieren, und dann diese Gehirnkarten mit dem Referenzatlas vergleichen. "Und jetzt kann man Fragen zu stellen wie: Sind bestimmte Zellarten bei der Krankheit anfällig oder sind bestimmte Zellarten die Ursache", sagt Lein.

Anstatt Plaques und verdrehte Fibrillen (Tangles) zu untersuchen, können die Forscher Fragen über "sehr spezifische Arten von Neuronen stellen, die zu den wahrscheinlich gestörten Schaltkreiselementen gehören und funktionelle Folgen haben", sagt er.

Als nächstes wollen die Forscher die Auflösung noch weiter verbessern. "Die nächste Phase ist eine sehr detaillierte Erfassung des Gehirns von Menschen und nicht-menschlichen Primaten bei Erwachsenen". Tatsächlich hat diese Arbeit bereits mit dem Zellatlas-Netzwerk der BRAIN-Initiative begonnen, einem auf fünf Jahre angelegten und mit 500 Millionen Dollar dotierten Projekt. Ziel ist es, einen vollständigen Referenzatlas der Zelltypen im menschlichen Gehirn über die gesamte Lebensspanne hinweg zu erstellen und auch die Zellinteraktionen zu kartieren, die einem breiten Spektrum von Hirnstörungen zugrunde liegen. Das ist ein Detailreichtum, wie es sich Ramon y Cajal nicht hätte vorstellen können.

(vsz)