124 Forscher kritisieren populäre Bewusstseinstheorie als "Pseudowissenschaft"

In einem offenen Brief wenden sich Forschende gegen die sogenannte Integrierte Informationstheorie (IIT). Zentraler Vorwurf: Nicht experimentell überprüfbar.

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(Bild: Skorzewiak/Shutterstock.com)

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124 Forschende haben online einen offenen Brief veröffentlicht, in dem sie die sogenannte Integrierte Informationstheorie (IIT) als "Pseudowissenschaft" bezeichnen. Zu den prominenten Befürwortern dieser Theorie zählt unter anderem Christof Koch vom Allen Institute for Brain Science.

Nach der Integrated Information Theory (IIT) kann – grob vereinfacht gesagt – in Materie Bewusstsein entstehen, wenn diese Informationen auf eine hinreichend komplexe Art verarbeitet sind. In bewussten Systemen übersteigt die Menge an Informationen, die ein System "als Ganzes‟ erzeugt, die Menge an Informationen, die von seinen einzelnen Teilen erzeugt werden. Jedem physikalischen System lässt sich laut IIT eine Bewusstseins-Maßzahl Phi zuordnen, die den Grad des Bewusstseins angibt und zwischen 0 und 1 liegt.

Das sei unwissenschaftlich, sagen die Unterzeichner des offenen Briefes, denn die Theorie lasse sich experimentell nicht überprüfen. Ungeachtet dessen werde IIT prominent in den Medien präsentiert. Damit würde sie indirekt ethische und juristische Debatten beeinflussen – sei es über Bewusstsein von KI, die Ethik von Experimenten mit Gehirn-Organoiden oder die Diskussion um Gesetze zur Abtreibung, sagen die Kritiker der IIT.

Tatsächlich scheint einer der Auslöser für den Streit die Berichterstattung über eine Langzeit-Wette zwischen zwei prominenten Wissenschaftlern zu sein: David Chalmers und Christof Koch hatten gewettet, wer von ihnen zuerst Messergebnisse vorweisen könnte, die den Sitz des Bewusstseins im Hirn eindeutig lokalisieren – und damit auch, welche Theorie über das Bewusstsein die richtige sei. Unabhängige Labore führten im Sommer Experiment durch, die nach zahlreichen Berichten – unter anderem auch in Nature – kein eindeutiges Ergebnis zeigten. Doch die Befürworter der IIT hätten sozusagen mit gezinkten Karten gespielt, erklärt einer der Initiatoren des Briefes, Hakwan Lau vom RIKEN Center for Brain Science in einem ergänzenden Aufsatz auf der Preprint-Plattform PsyArxive. Damit hätten sie in der Öffentlichkeit ein falsches Bild erzeugt.

"Im umgangssprachlichen Sinn bezeichnet Pseudowissenschaft i) eine Reihe von wichtigen Behauptungen mit weitreichenden Auswirkungen, die ii) weder derzeit von der Wissenschaft gestützt werden, noch in absehbarer Zeit in der Zukunft (vielleicht sogar prinzipiell), und die dennoch iii) so tun, als seien sie bereits wissenschaftlich getestet und etabliert", schreibt Lau. "Pseudo bedeutet gefälscht. Für IIT ist es die drastische Diskrepanz zwischen ii und iii, die viele von uns beunruhigt. Die 'Flat Earth Theory' ist eindeutig falsch, aber wir sehen keine Artikel in Science und Nature, der New York Times, dem Economist oder New Scientist über viele Jahre hinweg erscheinen, manchmal von Autoritäten, die verkünden, dass es sich um eine führende, empirisch getestete und gut etablierte wissenschaftliche Theorie handelt."

Der tiefere Blick ins Gehirn

Einer der zentralen Vorwürfe gegenüber der Theorie ist, dass sie nicht experimentell überprüfbar sei. Allerdings geht aus der IIT ein Testverfahren hervor, mit dem gemessen werden kann, ob Koma-Patienten bei Bewusstsein sind. Dabei wird aus dem EEG des Patienten der sogenannte Pertubation Complexity Index (PCI) berechnet – indem die LZW-Komplexität der Messwerte berechnet wird. Dieser Index soll darüber Aufschluss geben, ob eine Person bei Bewusstsein ist. Die Forscher, die das Verfahren entwickelten, haben einen Grenzwert von 0,31 errechnet, der 2016 bei einer Studie unbewusste und bewusste Zustände gesunder und hirngeschädigter Probanden unterscheiden konnte. Er stellt die genaueste Bewusstseinsmessung dar, die es bislang gibt.

Wie passt das zusammen? "Der PCI ist vom IIT inspiriert, aber er ist nicht das beste Beispiel (für die Überprüfbarkeit der Theorie), da der PCI keine Annäherung an Phi ist – ein Punkt, den die IIT-Leute manchmal übersehen – und die PCI-Ergebnisse auch mit anderen Theorien kompatibel sind", sagt der Bewusstseinsforscher Anil Seth, der selbst nicht zu den Verfechtern der IIT gehört. "Aber es gibt viele andere überprüfbare Vorhersagen, die sich aus IIT ergeben."

Es gäbe zur Zeit "rund 100 experimentelle Arbeiten, die mit IIT in Verbindung stehen", sagt auch Johannes Kleiner vom Munich Center for Mathematical Philosophy. In ihrem Aufsatz "Falsification and Consciousness" haben Kleiner und sein Kollege Erik Hoel untersucht, ob diese Experimente prinzipiell in der Lage wären die Theorie zu widerlegen – zu falsifizieren – laut dem Philosophen Karl Popper eine grundlegende Voraussetzung für Wissenschaftlichkeit. "Tatsächlich gibt es ein Problem mit der Falsifizierbarkeit der Theorie", sagt Kleiner. "Allerdings besteht dieses Problem nicht nur für IIT. Sondern, wie wir im Preprint zeigen, de facto, für jede neurowissenschaftliche Theorie des Bewusstseins. Der Grund dafür ist, dass der konzeptuelle bzw. formelle Apparat, der zu der Definition all dieser Theorien herangezogen wird, noch unvollständig ist."

"Die Frage, was Pseudowissenschaft auszeichnet, und was nicht, wird bis heute in der Philosophie der Wissenschaft untersucht", ergänzt er. "Sicher ist in meinen Augen eigentlich nur, dass es sehr schwer bis unmöglich ist, zum jeweils aktuellen Zeitpunkt die Spreu vom Weizen – also Wissenschaft von Pseudo-Wissenschaft – zu trennen. Auch Theorien, die noch nicht experimentell überprüft wurden, oder vielleicht noch nicht einmal stichhaltige Vorhersagen machen, können valide Theorien sein. Sie brauchen unter Umständen einfach Zeit und Arbeit, um eine Beziehung zu Experimenten herstellen zu können. In der Physik gibt es eine ganze Reihe von Theorien, die keine testbaren Vorhersagen machen."

Es sei jedoch "gelinde gesagt, erschreckend, dass eine so große Zahl von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern sich einem Brief anschließt, der ohne stichhaltiges Argument und ohne systematische Literaturrecherche, einer wichtigen Theorie in der Community den schwerwiegendsten Vorwurf macht, den man einer wissenschaftlichen Theorie, und den Menschen hinter dieser Theorie machen kann", sagt Kleiner. "Ich hätte dies noch vor einer Woche nicht für möglich gehalten und bin persönlich enttäuscht. Ähnlich sehen es zwei Drittel der Community."

"Wissenschaft ist sowohl eine Methode als auch ein komplexes soziales Unternehmen", kommentiert Anil Seth. "Es wird immer politische Aspekte und eine übertriebene Medienberichterstattung geben. Ich denke, dass wir alle, die wir in der Bewusstseinsforschung tätig sind, mehr tun sollten, um sicherzustellen, dass unsere Arbeit so genau wie möglich dargestellt wird, ohne Überheblichkeit und vielleicht mit einer gewissen Bescheidenheit."

(wst)