Die X-Akten der Astronomie: Können Sterne einfach verschwinden?

Seite 3: Anatomie verlorener Sterne

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Für diese Sterne ließen sie die Computer ein wenig Statistik aus dem USNO-Katalog extrahieren. Im Vergleich zu 50.000 zufällig extrahierten Sternen aus dem USNO-Katalog waren die "verloren gegangen Sterne" im Schnitt ein wenig röter und bewegten sich ein wenig schneller über den Himmel. Man beachte, dass dies nicht heißen muss, dass ein typischer Vertreter dieser Sterne nur ein wenig röter und schneller ist, als die Vergleichssterne. Stattdessen dürfte ein gewisser Teil der Sterne sehr viel röter und schneller sein, während der Rest von den Vergleichssternen nicht zu unterscheiden ist; im Mittel ergibt sich dann die nur geringe Abweichung in Farbe und Geschwindigkeit. Das legt die Vermutung nahe, dass es sich bei diesem Anteil um Flares Roter Zwerge handelt, denn solche Sterne sind rot und lichtschwach, das heißt sie müssen nahe sein, um auf den Platten sichtbar zu sein. Und nahe Objekte bewegen sich in einem bestimmten Zeitraum weiter über den Himmel als ferne.

Nicht zur Bewegung, aber teilweise zum roten Licht beigetragen haben können auch rotverschobene Objekte in kosmologischen Entfernungen, wie etwa aktive Galaxienkerne oder ferne Supernovae. Andere infrage kommende Erklärungen sind Gravitations-Mikrolinsenereignisse, Verschmelzungen massearmer Sterne (ein Modell für "Rote Novae") oder sogenannte "Intermediate-Luminosity Red Transients" (ILRT), zu deutsch "vorübergehende rote Erscheinungen mittlerer Leuchtkraft", die man am Himmel beobachtet hat, ohne sich bisher auf ein einheitliches Modell dafür geeinigt zu haben. Ein Modell für die ILRTs sieht vor, dass ein Stern, der zum Schwarzen Loch kollabiert, soviel Materie in dieses mit hinein reißt, dass es zu keiner nennenswerten Explosion kommt, eine "fehlgeschlagene Supernova". Die Wahrscheinlichkeit eines solchen Ereignisses in der Milchstraße ist allerdings so unterirdisch klein, dass man nicht erwarten kann, auch nur eine einzige davon auf den POSS-Platten erwischt zu haben. Schon gewöhnliche Supernovae kleinerer Sterne treten nur alle 100 Jahre oder seltener in der Milchstraße auf.

Womit man es im konkreten Fall zu tun hat, kann nur eine Betrachtung der einzelnen Objekte erweisen. Also haben die Astronomen die 1691 Kandidaten noch einmal durch Vergleich der alten POSS-I und neueren SDSS-Aufnahmen miteinander verglichen. Meistens fand sich dann doch ein Stern auf den SDSS-Aufnahmen, nur ein wenig versetzt. Oder ein Artefakt verdeckte ihn im SDSS. Nur etwa 100 Objekte, die im POSS-I klar erkennbar waren und im SDSS klar fehlten, blieben übrig und schafften es in die Pressemeldungen. Diese 100 wollen die Autoren in einer Folgearbeit einzeln vorstellen. Diese ist bisher noch nicht veröffentlicht, und auch auf dem Preprint-Server arXiv findet man sie leider noch nicht.

Was den Stern aus dem 2016-Papier betrifft: nach diesem hat das Team noch einmal gesucht. Einmal auf Aufnahmen anderer irdischer und Weltraumteleskope wie Gaia und WISE. Und indem sie selbst Fotos der betreffenden Gegend mit dem 2,5m Nordic Optical Telescope auf La Palma machten, die rund einen Faktor 10 tiefer in der Helligkeit gehen als die SDSS-Platten. An der exakten Position des Sterns fanden sie nichts – nur zwei knapp 50 Mal dunklere rote Sterne in der Nähe, die nur dann passen würden, wenn das ursprüngliche Objekt sich bewegt hätte. Vermutlich sind es Rote Zwerge – um das sicher zu entscheiden, bräuchte man ihre Entfernung, aus der mit der beobachteten Helligkeit die Leuchtkraft folgte. Die wahrscheinlichste Theorie ist daher wohl die eines Flares auf einem Roten Zwerg, vielleicht auf einem der mit dem Nordic Optical Telescope gefundenen beiden Sterne.

Aufnahme des Himmelsfelds mit dem Nordic Optical Telescope, in dem der "verschwundene Stern" aus dem 2016-Aufsatz von Villaroel, Imaz und Bergstedt sich befunden hatte. Nahe der Position finden sich zwei etwa gleich helle Sterne, keiner jedoch an der exakten Position.

(Bild: B. Villaroel, J. Soodla et al., arXiv:1911.05068)

Von den verschwundenen Sternen bleibt am Ende somit nicht mehr viel übrig. Das heißt, von den Sternen schon – es gibt keinerlei belastbaren Hinweis dafür, dass irgendeines der 100 (oder 1691) Objekte tatsächlich nicht mehr da ist. Verschollen gegangen ist hingegen die Story von den außerirdischen Superzivilisationen, die Sterne in Dyson-Sphären einmauern. Es gibt, wie wir gelesen haben, eine Vielzahl möglicher Erklärungen, warum ein Klecks auf einer Fotoplatte auf einer späteren Aufnahme nicht mehr gefunden wird und man sollte Aliens nicht in Betracht ziehen, wenn es mindestens eine natürliche plausible Alternative gibt.

Mit Computerhilfe nach Veränderungen am Himmel zu suchen und dabei Daten zu nutzen, die einen möglichst langen Zeitraum überdecken, macht sehr viel Sinn bei der Suche nach veränderlichen Sternen oder noch unbekannten astronomischen Phänomenen. Aber derart laut und unmotiviert mit der Alien-Keule zu schwingen erscheint mir dann doch etwas unseriös. Vielleicht ist das einer der Gründe, warum die Arbeit außer im Breakthrough-Listen-Katalog bisher keine einzige andere Zitierung aufweisen kann.

Quelle:
  • Beatriz Villaroel, Johan Soodla, Sébastien Coméron et al. “The Vanishing and Appearing Sources during a Century of Observations Project. I. USNO Objects Missing in Modern Sky Surveys and Follow-up Observations of a ‘Missing Star’", The Astronomical Journal, Vol. 159, Nr. 1, 12. Dezember 2019.

(mho)