Die neue Tablet-Sucht

Das iPad setzt neue Maßstäbe für den Medienkonsum. IT-Experten und Wagniskapitalgeber sind sich einig: Seine künftigen Google-Chrome- und Windows-Konkurrenten werden sich mächtig ins Zeug legen müssen.

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Von
  • Steffan Heuer

Das iPad setzt neue Maßstäbe für den Medienkonsum. IT-Experten und Wagniskapitalgeber sind sich einig: Seine künftigen Google-Chrome- und Windows-Konkurrenten werden sich mächtig ins Zeug legen müssen.

Alle Anzeichen deuten darauf hin, dass die Markteinführung des iPad ein Erfolg war – eine gut durch choreografierte Affäre, bei der die Apple-Fans wie immer Teil des Schauspiels waren und die die Kritiker wie bei jedem Produktstart aus Cupertino mit ungläubigem Kopfschütteln hinnehmen. Wer ist besessen genug, stundenlang Schlange zu stehen und darüber zu tweeten, geschweige denn – wie im Falle von Besuchern und Reportern aus Deutschland oder Japan – für einen Tablet-Rechner einmal um die halbe Welt zu fliegen?

Mehrere hunderttausend Kunden, einschließlich des Autors, ersparten sich den Zirkus und bestellten das iPad online. Damit entfiel zwar die öffentliche Blamage, wie Hightech-Vieh vor dem Laden zu warten, aber man wurde seit Beginn der Woche zum Pawlow´schen Hund, der regelmäßig auf den “Bestell-Status” bei UPS klickte, um darüber informiert zu werden, dass das Gerät bis Freitag Nacht noch in Guangzhou und Shenzhen weilte, bevor es mit einem nächtlichen Stopp im UPS-Drehkreuz in Kentucky bis um elf Uhr vormittags den Weg zum Käufer fand.

Das sonst atemlos gebloggte “Unboxing” konnte man sich diesmal sparen: Ein unscheinbarer Karton mit einem kleinen Faltblatt und dem Ladegerät – so werden sonst Toaster oder ein Fön verpackt. Was allerdings nicht davon ablenken sollte, dass die erste Generation des iPad mit einem Einstiegspreis von 499 Dollar für 16 Gigabyte Speicher und WLAN fast alles richtig macht, was die intuitive Handhabung angeht.

Apple gab am Montag bekannt, dass am ersten Verkaufstag rund 300.000 iPads über die Theke gingen -- für Analysten eine viel versprechende Hausnummer. Fürs laufende Jahr rechnen Marktforscher mit rund sieben Millionen verkauften Exemplaren. Rund drei Viertel aller Käufer sind Mac-Besitzer, zwei Drittel iPhone-Nutzer, und jeder achte iPad-Kunde will von Amazons Kindle umsteigen, ergaben Analysten-Umfragen in Apple-Geschäften.

Damit hätte Steve Jobs wieder einmal etwas geschafft, woran sich die Größen der IT-Welt, inklusive Microsoft-Gründer Bill Gates, seit einem guten Jahrzehnt die Zähne ausbeißen: einen tragfähigen Markt für Tablet-Rechner zu schaffen, die ebenso vielseitig sind wie ausgewachsene Computer, aber ohne Tastatur auskommen und eine akzeptable Batterielaufzeit bieten.

Davon erhoffen sich Spiele-Hersteller ebenso viel neuen Umsatz wie Krisen-geplagte Verlage, die das Erlebnis Zeitung oder Zeitschrift für Tablets als multimediale Fingerübung neu erfinden wollen. Die ersten Beispiele auf dem iPad fallen durchwachsen aus. Das Großprojekt des Time Magazine führte zu einer ansehnlichen iPad-Ausgabe für stattliche 4,99 Dollar, während das Wall Street Journal wie eine unordentliche Webseite daher kommt. Am besten haben sich die Tageszeitung USA Today sowie die Nachrichtenagenturen AP, Thomson Reuters und Bloomberg auf den Multitouch-Schirm mit 24,6 Zentimeter Diagnoale eingestellt.

Diese Apps sind aber nur der Vorgeschmack auf die Lawine aus neuen Tablets, die das iPad losgetreten hat. Bereits bei der diesjährigen Elektronikmesse CES im Januar in Las Vegas war klar: Apple wird jede Menge Konkurrenz bekommen. Der CEO des Grafikchip-Herstellers Nvidia, Jen-Hsun Huang, erklärte 2010 zum “Jahr des Tablet-Rechners” und schätzte, dass mehr als 40 neue Geräte auf ihre Markteinführung warten – vom Netbook-Marktführer Asus bis zu Hewlett-Packard. Einige der neuen Flachrechner werden auf Windows laufen, andere auf Linux und auf Googles Betriebssystem Chrome.

Aber alle ernst zu nehmenden Konkurrenten werden mehr oder weniger dem Standard aus Multitouch und App-Store folgen, den Apple erst mit dem iPhone und nun mit dem iPad gesetzt hat. Auch wenn die Stückzahlen niedriger liegen werden als beim inzwischen lebensnotwendigen Handy, hat das iPad als neue Geräteklasse jede Menge Potential. So jedenfalls die einhellige Meinung von Software-Experten und Technologen in Silicon Valley und New York, die sich am Tag danach im Gespräch mit Technology Review zu ihren ersten Eindrücken äußerten.

“Ich habe mich nur einen Tag mit dem iPad beschäftigt, aber ich kann bereits sagen, dass das Gerät alle Erwartungen erfüllt und den Computer in völlig neue Bereiche des Alltags bringt”, sagt der Stanford-Professor Ge Wang. Der Akustikforscher ist Mitbegründer der Firma Smule, die mit der iPhone-Flöte Ocarina mehr als zwei Millionen Dollar Umsatz erzielt hat. Rechtzeitig zum iPad-Start brachte Smule eine großformatige App namens Magic Piano heraus, mit der auch Musikbanausen mit zehn Fingern spielen können – und das im Wettstreit mit anderen Spielern irgendwo in der Welt.

Während es für iPhone und iPod Touch mehr als 175.000 Programme gibt, ging das iPad mit nur rund 1.400 speziellen Apps an den Start. Erhebungen des Marktforschers Flurry besagen allerdings, dass seit Februar jedes fünfte neue Softwareprojekt für das iPad angeleiert wurde, während der Anteil von Projekten für Googles Android-System von 18 auf 10 Prozent fiel.

“Magic Piano ist für uns nur der bescheidene Anfang, was neue Spiele angeht. Ein Multitouch-Schirm in dieser Größe eröffnet völlig neue Möglichkeiten und erlaubt vor allem einen spielerischen Umgang mit einem tragbaren Computer, den ein Laptop einfach nicht bieten kann”, so Wang. Er vergleicht das iPad mit einer Zeitschrift, die man in Situationen mitnehmen könne, in denen ein ausgewachsener Rechner unhandlich oder fehl am Platze war.

Ähnlich positiv äußerte sich Bob Pasker, Technologie-Unternehmer und Wagniskapitalgeber, der zwischen New York und San Francisco pendelt. “Ich sehe enormes Potential in drei Bereichen, bei denen das iPad erst einmal ungeschlagen in Führung gegangen ist: Lesen als packendes Erlebnis, Film und Fernsehen werden tragbar, und Daten-intensive Anwendungen.”

Pasker, der bisher einen elektronischen Kindle-Reader von Amazon benutzte, ist bereits auf das Apple-Gerät umgestiegen. Amazon war schlau genug, rechtzeitig eine eigene App für das iPad zu lancieren, während das Unternehmen mit der kürzlich erworbenen Firma Touchco am eigenen Multitouch- und Farb-Reader arbeitet, das sein E Ink-Gerät ablösen soll. “Im Vergleich dazu kommt einem der Kindle wie ein Gerät vor, auf dem Windows 3.1 läuft”, so Pasker, der derzeit in zwei Firmen investiert hat, die Apps für das iPhone und das iPad entwickeln.

Neue Multimedia-Bücher für Tablets bieten die Option, Fotos, Videos und andere Objekte wie Tondateien und Spiele in den Text einzubetten – ein Grund, weshalb alle namhaften Schulbuchverlage in den USA Bücher im iPad-Format entwickeln. Und ein Grund, weshalb der Autohersteller Hyundai Käufern seines Nobelfahrzeugs Equus als Handbuch ein iPad schenkt.

Ähnliches gilt für den Konsum von TV und Filmen. Mit seinem Mikrofaser-Klappständer dient das iPad als Zweit- oder Drittfernseher, und die ersten paar Anwendungen zum Streaming von Fernsehserien des Networks ABC und des Filmverleihs Netflix zeigen trotz einiger Bugs, wie kommende Generationen ihr Fernsehprogramm nach Belieben zusammen stellen werden: als Kombination ihres Geplauders auf Social Networks, Twitter-Hinweisen, Abonnements von Serien sowie einzelnen Episoden.

Der dritte Bereich mit großem Potential ist laut Pasker die Abbildung komplexer Datensätze. Firmenzahlen, medizinische Ergebnisse oder selbst Steuersysteme für Gebäude lassen sich nun auf einem dünnen, frei konfigurierbaren Armaturenbrett darstellen. “Das können andere Geräte auch, aber das iPad schlägt sie alle, weil es so vielseitig ist”, so der Technologe, der nur einen großen Verbesserungswunsch hat: Log-ins für unterschiedliche Nutzer.

Dass der Markt von schätzungsweise 20 bis 30 Millionen verkauften iPads bis Ende 2011 lukrativ genug ist, glaubt auch die Risikokapitalfirma Kleiner Perkins, die bisher Unternehmen von Compaq und Netscape bis Google aus der Taufe heben half. Sie verdoppelte zum Start des neuen Apple-Geräts einen speziellen Venture-Fond auf 200 Millionen Dollar. Der Markt für iPad-Apps von Spielen bis zu neuen Magazinformaten soll bis zum kommenden Jahr auf sechs Milliarden Dollar anwachsen – von denen 30 Prozent bei Apple hängen bleiben.

“Das iPad ist für mich im kommenden Jahr ein größerer und wichtigerer Markt als Android”, sagt Bart Decrem, einer der Mitgründer des Spiele-Herstellers Tapulous in Palo Alto. Wie er berichtet, haben fast alle wichtigen Handy-Hersteller und Netzbetreiber bei seiner Firma angeklopft, damit er Spiele wie den Bestseller Tap Tap Revenge in ihrem Format entwickelt. “Die Kriterien sind für mich, ob ich im ersten Jahr mindestens eine Million Nutzer gewinnen und schwarze Zahlen schreiben kann”, so Decrem. “Da bin ich mir beim iPad ebenso sicher, wie wie wir es mit dem iPhone und dem iPod Touch erlebt haben.”

Tapulous hat bislang seine Spiele auf 30 Millionen Apple-Geräten platziert und generiert durch Einkäufe innerhalb der Spiele jeden Monat eine Millionen Dollar Umsatz. Neue Spiele für eine neue Kategorie von Tablets zu entwickeln sei auch aus einem anderen Grund eine gute Investitionen, schiebt der holländische Unternehmer nach: “Es lässt uns Erfahrung mit neuen, hoch auflösenden Multitouch-Bildschirmen sammeln, von denen es schon bald immer mehr geben wird.”

Das größere Format deutet in Decrems Augen auf den unauffälligen Vormarsch von Rechnern ins Wohn- und Schlafzimmer hin. “Ein Tablet-Rechner wird zum elektronischen Brett für gemeinsame Spiele, und kleine Mobilgeräte wie der iPod Touch sind das Äquivalent zu x-ten Karten, die man in der Hand hält”, so der Tapulous-CEO. “Das einzige Element, das bei diesem neuen Ökosystem noch fehlt, ist Apples Fernseher, der mit all diesen Komponenten zusammen arbeitet. Aber der kommt noch.” (nbo)