Die totale Illusion

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Um die außerkörperliche Erfahrung zu erfassen, mussten die Teilnehmer anschließend per Fragebogen angeben, wie stark ihr Empfinden war, sich in einem anderen Körper zu befinden. Es zeigte sich, dass das sogenannte Embodiment recht gut gelang, solange das beobachtete Streicheln synchron war mit dem gefühlten Streicheln. Ansonsten blieb die Illusion aus.

Ein zusätzliches "Blinde-Kuh-Spiel" am Ende des Experiments brachte einen weiteren interessanten Befund. Den Probanden wurden die Augen verbunden, sie wurden um sich selbst gedreht, hin und her geführt und sollten anschließend zu der Stelle zurücklaufen, an der sie vorher gestanden hatten. Interessanterweise gingen sie zu einem Punkt zurück, der Richtung projiziertem Avatar verschoben war. Offensichtlich bekom-men Menschen bei dem Experiment Probleme, ihr Selbst zu lokalisieren.

Henrik Ehrsson vom Karolinska Institutet in Stockholm hat die Illusion, in einem fremden Körper zu stecken, mit einem kurios anmutenden Händedrücken erzeugt: Ein stehender Testteilnehmer trägt eine Display-Brille. Ihm gegenüber sitzt eine Frau, an deren Kopf Minikameras wie eine Stirnlampe befestigt sind. Die Bilder dieser Kameras werden direkt auf die DisplayBrille übertragen. Der Proband sieht sich selbst also genau aus dem Blickwinkel der Frau.

Dann sollten sich die beiden Versuchspersonen zwei Minuten lang synchron die Hände drücken. Die Teilnehmer mit den Kamerabildern vor Augen bekamen dann das Gefühl, im Körper der Frau zu sein. Sie drückten sich also gewissermaßen selbst die Hand. "Die Leute sehen sich selbst beim Händeschütteln zu, nehmen diese Person aber nicht als sich selbst wahr", sagt der schwedische Forscher.

Mit einem zusätzlichen Test konnte Ehrsson zeigen, wie tief die Illusion des Körpertauschs ging. Dazu führte der Versuchsleiter ein Messer an den Handgelenken der Probanden vorbei – so als wollte er deren Haut anritzen. Die Messungen des Hautwiderstands ergaben, dass die Teilnehmer mehr Angst hatten,

als sich das Messer dem Arm der Frau näherte, als bei ihrem eigenen. Die beiden Experimente zeigen: Es gibt verschiedene Varianten der Körpertäuschung. Mal wähnen sich die Probanden in einem Körper, den sie wie im Fall Metzinger von außen sehen (Betrachter-Perspektive). Mal glauben sie wie beim Händeschüttelexperiment, in eine andere Person geschlüpft zu sein und die Umgebung mit deren Augen zu sehen (Ich-Perspektive). Mel Slater, Professor für Virtuelle Umgebungen am University College London, hat in einem Experiment gezielt mit diesem Wechsel der Perspektiven gespielt. Auch hier schlüpften die Versuchspersonen – 24 Männer – mithilfe von Display-Brillen in den Avatar einer jungen, sitzenden Frau, die mit einer vor ihr stehenden Frau spricht. Ein Teil der Probanden nahmen die Ich-Perspektive der jungen Frau ein, ein Teil die Betrachter- Perspektive.

Die anschließenden Befragungen ergaben, dass die Ich-Perspektive das stärkere Gefühl von Präsenz auslöste. Auch in dieses Experiment bauten die Forscher eine bedrohlich wirkende Situation ein. Kurz vor Ende holt die bis dahin freundlich blickende, stehende Frau plötzlich zu einem Schlag gegen die junge Frau aus. Dabei erwies sich die Ich-Perspektive als wirksamer, denn der Anstieg der Herzfrequenz war im Moment des Schrecks höher.

Was aber erzeugt überhaupt die außerkörperliche Wahrnehmung? Und wie könnte man sie weiter verstärken? Entscheidend sind, da herrscht unter den Forschern weitgehend Einigkeit, multisensorische Erfahrungen. Eine virtuelle Welt nur zu sehen reicht nicht. Vor allem Berührungen sind offenbar zwingend notwendig, um die Illusion des Körperwechsels zu erzeugen.

Albert Rizzo von der University of Southern California setzt bei seinem Cybertherapie-Programm aber noch einen ganz anderen Sinn ein. In der 3D-Simulation "Virtual Iraq/Afghanistan", mit der er US-Teilnehmer des Irak- und Afghanistankrieges behandelt, arbeitet er zusätzlich mit Gerüchen. "Das ist sehr wichtig, weil der Geruchssinn mit dem limbischen System verbunden ist, wo Emotionen verarbeitet werden." Per Mausklick kann der Therapeut acht verschiedene Düfte freisetzen, darunter orientalische Gewürze, verbranntes Gummi, Diesel, Schweiß und Pulverdampf.

Und so fühlen sich die vom Krieg traumatisierten Soldaten ganz schnell wieder wie auf Patrouille, obwohl sie eigentlich nur mit einer Display-Brille eine virtuelle Welt erkunden. Eine ultrarealistische Grafik bietet "Virtual Iraq/Afghanistan" nicht – das Kopf-Display hat eine Auflösung von nur 800 mal 600 Pixeln, das Gesichtsfeld ist auf 40 Grad beschränkt. "Wir haben kein Riesen-Budget", erklärt Rizzo. Doch zu viel Realismus könne ohnehin kontraproduktiv sein. "Wir wollen Details bewusst offen lassen, um der Imagination der Patien- ten Raum zu lassen. Sie füllen die Lücken dann mit ihren eigenen Erfahrungen."

Ob eine möglichst realistische Darstellung die Präsenz überhaupt verstärken kann, darüber gehen die Meinungen ohnehin auseinander. Probleme gibt es vor allem bei Körpern und Gesichtern der Avatare. "Bei einem virtuellen Menschen, der nahezu perfekt ist, stimmt meist irgendetwas nicht", sagt Rizzo. Und das fänden die Leute dann gruselig. Womöglich liegt es aber auch daran, dass die virtuelle Umsetzung einfach immer noch nicht gut genug ist. Illusionsfördernd ist auf jeden Fall die Präsenz anderer Avatare im virtuellen Raum. "Wenn da einer steht und Sie anguckt, sind Sie sofort drin", sagt Thomas Metzinger. Nach seinen Erfahrungen funktioniert das sogar noch besser, wenn der Betroffene das Gefühl hat, abgelehnt zu werden, weil der andere Avatar wegguckt und ihn ignoriert.

Wohl auch deshalb eignen sich virtuelle Welten sehr gut, um beispielsweise Patienten mit Lampenfieber oder sozialen Phobien zu helfen. Sie lernen besser, mit Ablehnung umzugehen. Ähnlich soll auch die Therapie autistischer Kinder funktionieren. Im virtuellen Klassenraum können sie vorsichtig Erfahrungen im Umgang mit anderen Kindern sammeln. Die immer besseren Präsenz-Technologien wollen Forscher auch nutzen, um Menschen Erfahrungen zu ermöglichen, die sie normalerweise nicht machen können. Zum Beispiel, wie es ist, eine Frau statt ein Mann zu sein oder eine andere Hautfarbe zu haben als alle übrigen Avatare. Solche Erlebnisse in der virtuellen Welt können sogar auf die reale Welt zurückwirken.