"Ewigkeitschemikalien": Schaden durch PFAS war lange unterschätzt

PFAS sind in Konsumgüter-Industrie beliebt. Doch Experten stufen sie als sehr gefährlich ein. Nun wird in der EU ein Verbot diskutiert.

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Der Fluor-Schaden

Die Teflonschicht stößt dank PFAS alles ab.

(Bild: Shutterstock)

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"Die chinesischen Kollegen sind 5.000 Meter hoch geklettert, um Schneeproben zu nehmen, die russischen haben sich eine entlegene Region ausgesucht, ich selbst war mit den Schweizer Kollegen in den Schweizer Bergen", erinnert sich Manfred Santen, Chemiker bei Greenpeace. Überall spürten die Teams per- und polyfluorierten Alkylsubstanzen nach, kurz PFAS. "Wir haben unberührte Schneeproben genommen und Wasserproben aus Bergseen." Am Ende aber war nicht viel Detektivarbeit nötig, um sie zu finden. Sie waren schlicht überall, wie die Greenpeace-Kampagne "Footprints in the Snow" 2015 mit den Proben aus entlegenen Gebieten zeigte.

Es wundert kaum: PFAS, gemeinhin auch als "ewige Chemikalien" oder "Ewigkeitschemikalien" bezeichnet, stecken in der Outdoorjacke ebenso wie im Teppichboden, der beschichteten Pfanne, dem Feuerlöschschaum oder dem Skiwachs. Sie schützen Pizzakartons vor dem Durchweichen, Elektronikkabel davor, in Brand zu geraten, und machen Autositze unempfindlich gegen Flecken. Sie sind so verführerisch für die Konsumgüter-Industrie, weil sie wasser-, fett- und schmutzabweisend, feuerhemmend, extrem stabil und damit sehr widerstandsfähig auf Oberflächen sind. Aber leider behalten sie diese Eigenschaften auch, wenn niemand sie mehr braucht, wenn sie von den Gebrauchsgegenständen oder aus den Industriebetrieben in die Natur gelangen.

Die PFAS sind aufgrund dieser Eigenschaften nun auch in den Fokus der EU gerückt. Aktuell wird ein Vorschlag von der Europäischen Chemikalienagentur ECHA diskutiert, der ein Verbot der PFAS vorsieht. Der Vorschlag geht zurück auf das Anliegen von fünf EU-Staaten (Deutschland, Niederlande, Dänemark, Schweden und Norwegen). Sie zielen darauf ab, sämtliche Verbindungen dieser Substanzklasse – den per- und polyfluorierten Alkylsubstanzen – mit Übergangsfristen zwischen 18 Monaten und 12 Jahren zu verbieten. Bisher gibt es nur Einschränkungen für einzelne PFAS. So ist der Einsatz von Perfluroktansäure (PFOA) in der EU inzwischen verboten und die Nutzung von Perfluoroctansulfonsäure (PFOS) nur für wenige Einsatzbereiche zugelassen. Für die meisten der PFAS wurden allerdings bisher die Risken durch die Herstellung und Nutzung nicht kontrolliert.

Aktionen wie die folgenden wären dann in der Form nicht mehr möglich: Im badischen Rastatt etwa hatte ein Komposthändler in den Jahren 2006 bis 2008 PFAS-haltige Schlämme aus einer Papierfabrik verarbeitet und den Kompost an die Landwirte in der Region verschenkt. Bei einem Grundwasser-Screening durch den Wasserversorger im Jahr 2012 fielen dann hohe Belastungen mit PFAS auf – rund 130 Millionen Kubikmeter Trinkwasser sind verseucht. Bedenklich ist die Lage auch auf Flugplätzen: Mit Löschschäumen verteilen die Feuerwehren dort ganz legal und großflächig PFAS. Auf 18 deutschen Bundeswehrflugplätzen seien der Boden und das Grundwasser verseucht, berichtete vor gut einem Jahr der Bayerische Rundfunk.

TR 6/2020

Dieser Beitrag stammt aus Ausgabe 6/2020 der Technology Review. Das Heft ist ab 14.5.2020 im Handel sowie direkt im heise shop erhältlich. Highlights aus dem Heft:

Besonders betroffen sei die Gemeinde Manching, in der der Schwellenwert teilweise 400-fach überschritten sei. Inzwischen wurde PFOA in den Löschschäumen zwar ersetzt, aber Altbestände werden weiterhin verbraucht. Zudem verschwinden PFAS, die einmal in die Umwelt gelangt sind, nicht mehr. Mit derzeitigen Methoden sind sie so gut wie unzerstörbar und werden in der Natur nicht abgebaut – daher auch der Spitzname "ewige Chemikalien".

Das bleibt nicht ohne Folgen für die Gesundheit. Noch sind diese schwer zu fassen. "Man sieht in epidemiologischen Studien vielleicht, dass etwas passiert, aber beobachtete Veränderungen tatsächlich kausal auf eine Substanzgruppe oder einen konkreten Stoff zurückzuführen ist schwierig", sagt Ulrike Pabel vom Bundesinstitut für Risikoforschung (BfR).

PFOA und PFOS sind die am besten untersuchten PFAS.

(Bild: Formel: EPA)

Die Einschätzungen, was PFAS im Körper anrichten, beruhen vor allem auf zwei Substanzen dieser Chemikaliengruppe: Der inzwischen verbotenen PFOA und der stark mit Restriktionen belegten PFOS. Von diesen Substanzen ist bekannt, dass sie in Lebensmitteln vorkommen und sich im Blut an Serum-Proteine anlagern. Die erste Bewertung der Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit EFSA stammt aus 2008. Sie stützte sich auf Tierexperimente, in denen PFOA und PFOS hoch dosiert im Mikrogrammbereich verabreicht wurden. Es zeigten sich diverse Effekte: In erster Linie schädigen sie Leber und Schilddrüse, fördern die Krebsbildung, und die Nachkommen sterben auffallend häufig. Die Schlussfolgerungen der Wissenschaftler aus diesen Untersuchungen waren damals, dass die Gehalte in Lebensmitteln, die sich im Nanogrammbereich bewegen, zwar unproblematisch sind – aber bei diesem Gefahrenpotenzial unbedingt weiter geforscht werden muss.

Die brandhemmende Wirkung von PFAS löscht besonders gut.

(Bild: Shutterstock)

Als die EFSA dann 2018 eine weitere Stellungnahme veröffentlicht, war die Schlussfolgerung alarmierender. Diesmal konnte die Behörde sich auf Bevölkerungsstudien stützen – also den Gesundheitszustand von Menschen mit den Gehalten an PFOA und PFOS in ihrem Blut in Zusammenhang bringen. Gezeigt hat sich eine bunte Mischung aus Effekten. Um das Risiko sauber herauszuarbeiten, haben sich die Experten auf den Effekt konzentriert, der die Schwächsten bei der niedrigsten Dosis trifft: die Wirkung auf das Immunsystem. Kleine Kinder bis zu fünf Jahren, die erhöhte PFAS-Gehalte im Blut haben, bilden nach Impfungen weniger Antikörper gegen einen Impfstoff, haben also eine schwächere Impfreaktionen. "Dies zeigt eine mögliche Beeinträchtigung des Immunsystems, wobei die Datenlage nicht eindeutig zeigt, ob Kinder mit höheren PFAS-Gehalten im Blut auch tatsächlich infektanfälliger sind", relativiert Pabel. Die Ergebnisse sind aber doch ausreichend, um die Ansichten des BfR von 2008 zu überdenken. Die Einschätzung, dass ein gesundheitliches Risiko durch die derzeitige Belastung auszuschließen sei, hat das BfR bereits 2019 revidiert. Inzwischen sehen diverse Experten die Stoffgruppe sogar in der gleichen Kategorie wie DDT oder PCB.

Die EFSA hat 2020 neue Grenzwerte für die maximal tolerierbare Aufnahmemenge ausgegeben. Sie liegen für die wichtigsten PFAS bei einer Aufnahmemenge von 4,4 Nanogramm pro Kilogramm Körpergewicht pro Woche. 2008 sah die EU-Behörde noch eine tägliche Aufnahme für PFOS von 150 Nanogramm pro Kilogramm Körpergewicht und weiteren 1.500 Nanogramm PFOA als unkritisch an.

Unklar bleibt aber, wie die Grenzwerte der EFSA kontrolliert werden sollen. Es ist unmöglich, sie bei dieser Konzentration mit üblichen Analysemethoden zu finden.

Die Pizzaschachtel widersteht dem feuchten Dampf und suppigen Belag.

(Bild: Shutterstock)

Keine Behörde weiß, was auf dem PFAS-Markt überhaupt los ist. Schon das Namenswirrwarr zeigt, wie bunt es bei den per- und polyfluorierten Alkylsubstanzen zugeht: Als wäre der offizielle Name nicht schon kompliziert genug, geistern sie zudem als PFC, PFT für die Chemikaliengruppe durch den Äther, oder als PFBA, PFHxA und eben PFOA als Bezeichnungen für einzelne Verbindungen.

Ein Rätsel ist, wie viele Substanzen die Chemikaliengruppe überhaupt umfasst. Nach einer Zählung der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) gehören ihr 4.730 verschiedene Verbindungen an. Zugrunde liegen der Zahl aber nur Melderegister-Nummern, und unter verschiedenen Nummern kann sich ein und dieselbe Substanz verbergen. Viele der Chemikalien haben auch gar keine technische Bedeutung mehr oder hatten nie eine. Wie viele also tatsächlich in Umlauf sind, darüber gehen die Meinungen auseinander.

Die Outdoorjacke hält dicht dank der wasserabweisenden PFAS.

(Bild: Shutterstock)

Unklar ist auch, wer genau sie in welchen Mengen verwendet. Bekannt ist nur, dass etwa 50 Prozent der weltweit produzierten PFAS im Textilbereich angewendet werden. Das haben Forscher des Zentrums für Umweltforschung und Nachhaltige Technologien der Universität Bremen 2018 in einer Risikobewertungsstudie ermittelt. Allerdings ist die Gesamtmenge in Tonnen kaum zu beziffern. Eine Abfrage des Umweltbundesamtes aus dem Dezember 2019 unter zwölf Herstellern lässt nur erahnen, in welchen Größenordnungen PFAS eingesetzt werden. Etwa 10.000 Tonnen pro Jahr sollen als Zwischenprodukte allein in der EU im Umlauf sein. Einen Rückschluss auf einzelne Verbindungen lassen diese Zahlen jedoch nicht zu, denn häufig wissen die Produzenten von Polymeren, die ihre Kunststoffe mit PFAS veredeln, gar nicht, was genau während des Produktionsprozesses im Material geschieht – sie sehen nur die verbesserten Eigenschaften. Auch erfasst diese Erhebung längst nicht alle Hersteller. Große Produzenten aus Russland, Indien oder China fehlen in der Bilanz.

Vom Wundermittel zum globalen Problem

Die Geschichte der PFAS hat in den 1950er-Jahren in den USA begonnen: Bei 3M als Imprägniermittel Scotchgard und in den Teflonbeschichtungen aus dem Haus DuPont mit dem Stoff Perfluoroctansäure, kurz PFOA. Dieses PFOA gehört zusammen mit dem inzwischen verbotenen PFOS (Perfluoroctansulfonsäure) zu den am häufigsten verwendeten und am besten untersuchten Stoffen dieser Klasse. Allen gemeinsam ist, dass sie zu den organischen Verbindungen gehören: Sie haben ein Kohlenstoffgerüst, das hauptsächlich mit dem Halogen Fluor kombiniert ist. Es gibt sie in lang, in kurz, in verzweigt, in kettenförmig, mit unterschiedlichen Anhängseln. Der Kreativität der Chemie sind bei der Bildung von PFAS kaum Grenzen gesetzt. Und jede Verbindung hat individuelle Eigenschaften. Grundsätzlich gelten zwar langkettige PFAS als gefährlicher für Menschen als kurzkettige, da die längeren Moleküle im Blut nachweisbar sind. Genaue toxikologische Daten für Einzelverbindungen gibt es jedoch kaum.

Auf das Problem aufmerksam geworden sind Behörden und NGOs in Europa und den USA letztlich erst durch Umweltskandale. Den Anfang in Deutschland machte 2006 eine Düngemischung mit Abwasserschlämmen aus der Nahrungs- und Genussmittelindustrie, die als Bodenverbesserer auf landwirtschaftliche Flächen in Nordrhein-Westfalen verteilt wurde. Die PFAS aus diesen Schlämmen fanden Wissenschaftler der Uniklinik Bonn zufällig bei einem Untersuchungsprogramm der Flüsse Ruhr und Möhne. Welches Ausmaß die Verbreitung von PFAS in der Umwelt angenommen hat, zeigten dann erstmals weltumspannende Umweltanalysen von Greenpeace 2015. Besonders im Fokus von Greenpeace: mit PFAS imprägnierte Outdoorkleidung.

Wie viel also weltweit hergestellt wird: unbekannt. Welche dieser Stoffe in größeren Mengen im Umlauf sind: unbekannt. Welche Folgen die meisten PFAS auf den Organismus haben: unbekannt. Sicher ist nur, was der Beiname "ewige Chemikalien" nahelegt: Das Problem wächst stetig, statt sich von selbst zu erledigen. Alternativen sind zwar in der Diskussion, aber sind sie wirklich besser? Als ungefährlicher gelten Verbindungen mit kürzeren Ketten, die im Blut nicht nachweisbar sind.

PFAS in Muffin-Papierchen schützen das Papier vor dem Durchweichen.

(Bild: Shutterstock)

Der Chemiegigant DuPont etwa hatte 2020 in den USA eine Zulassung für 40 dieser Varianten erhalten. Manfred Santen sieht Alternativen jedoch kritisch: "Wir vergleichen das mit den Weichmachern in PVC. Nachdem man wusste, die sind gefährlich, ist man auf weniger gefährliche umgeschwenkt, und zwei, drei Jahre später kommen die ersten Studien, die sagen, das ist auch gefährlich." Zudem werden häufig zwar kurzkettige PFAS eingesetzt, in den Produktionsprozessen dann aber zu langkettigen zusammengefügt.

Bleibt wohl nur das aktuell diskutierte komplette Verbot. Die Frage ist, ob Konsumenten künftig tatsächlich wieder den Regenschirm statt der Outdoorjacke nehmen oder angebranntes Essen aus einer gusseisernen Pfanne akzeptieren.

(jle)