Insekten sterben weltweit

Eine Analyse zeigt: Es sterben weniger Insekten aus, als eine ­einflussreiche Studie 2017 für den deutschen Raum nahelegte. Dennoch gibt es ein großes Problem.

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Insekten sterben weltweit

(Bild: Shutterstock)

Lesezeit: 5 Min.
Von
  • Susanne Donner

Am Anfang der neuen Studie steht ein kritischer Gedanke: Die meisten bisherigen Metaanalysen hätten regelrecht nach einem Insektenschwund gesucht. "Wir sprechen von einem Publikationsbias – der gefärbten Brille der Wissenschaftler", sagt der Biodiversitätsforscher Roel van Klink vom Deutschen Zentrum für integrative Biodiversitätsforschung in Leipzig.

Gemeinsam mit Kollegen trug er deshalb alle seit 1925 verfügbaren Daten zum Vorkommen von Insekten weltweit zusammen, ausdrücklich auch Befunde über Zunahmen. So entstand eine bis dato einmalige Zwischenbilanz, die es ins Fachblatt "Science" schaffte, schreibt Technology Review in seiner Juni-Ausgabe (ab Donnerstag am Kiosk oder online bestellbar).

TR 6/2020

Dieser Beitrag stammt aus Ausgabe 6/2020 der Technology Review. Das Heft ist ab 14.5.2020 im Handel sowie direkt im heise shop erhältlich. Highlights aus dem Heft:

Fazit: Die landlebenden Insekten nehmen global ab – mit knapp neun Prozent pro Jahrzehnt. Die Zahl liegt deutlich unter der einer breit zitierten Studie aus dem Jahr 2017. Damals hatten Forscher im Raum Krefeld einen Rückgang der Insekten-Biomasse von 75 Prozent über 27 Jahre dokumentiert. Eine mediale Bombe, die "das Insektensterben" als Phänomen in die Öffentlichkeit und auf die Agenda der Politiker katapultierte.

Aber auch neun Prozent sind natürlich ein Rückgang. Wirklich positiv hingegen war ein zweites Ergebnis: Die im Wasser lebenden Insekten nahmen um elf Prozent pro Jahrzehnt zu. Dies ist überraschend und war so bisher als weltweiter Trend nicht bekannt.

Für die Zusammenschau zogen van Klink und seine Kollegen 166 Langzeitstudien an fast 1700 Standorten in 41 Ländern heran. Gefunden hatten sie im Vorfeld 5100 Studien. Um die methodisch und geografisch völlig unterschiedlichen Erhebungen überhaupt miteinander vergleichen zu können, wandten sie ein spezielles statistisches Verfahren an. Dadurch schrumpfte die Zahl der geeigneten Studien drastisch.

Im Grundsatz sieht van Klink aber keinen Widerspruch zu vorherigen Veröffentlichungen. "Es gibt ein schleichendes Insektensterben, sogar weltweit betrachtet", sagt er. "Ich habe ehrlich gesagt nicht erwartet, dass man das so klar sieht." Auch Sebastian Seibold vom Lehrstuhl für Terrestrische Ökologie der Technischen Universität München, der an der Metaanalyse nicht beteiligt war, hält es für alarmierend, "dass die Kollegen global einen Abwärtstrend festmachen können".

Die Metaanalyse liefert jedoch ein differenzierteres Bild. Die neue Veröffentlichung zeigt in erster Linie, wie lokal unterschiedlich und komplex die Situation ist. "Insektensterben" bedeutet nicht, dass alle Insekten überall gleich stark und über alle Arten zurückgehen. "Es gibt keinen uniformen Rückgang", erläutert Seibold. Besonders stark waren in der Erhebung die Rückgänge in den USA und Europa. In Europa nähmen die Bestände ab 2005 sogar noch rascher ab. Als Hauptgrund macht die Metaanalyse den Verlust an natürlichen Lebensräumen aus.

#Einen Zusammenhang zur landwirtschaftlichen Nutzung findet sie nicht. Dieser gilt aber wissenschaftlich als bestätigt. Der Grund für diesen blinden Fleck der Arbeit sehen unbeteiligte Forscher darin, dass die Autoren nicht nach der Art der landwirtschaftlichen Nutzung und nach Insektenarten differenzieren. Denn erst mit intensiver Landwirtschaft nimmt die Vielfalt der Arten deutlich ab, so der gegenwärtige Stand der Erkenntnis. Bei einfachen Formen des Ackerbaus kann die Zahl, insbesondere die von Schadinsekten, durchaus steigen.

Auch die positive Entwicklung in Gewässern könnte ähnlich komplexe Ursachen haben – und keineswegs die gute Nachricht sein, als die sie zunächst klingt. Van Klink sieht die Entwicklung als Folge der besseren Wasserqualität: "Früher konnte man im Rhein nicht schwimmen, heute traue ich mir das zu."

Der Zuwachs unter Libellen, Wasserläufern und Co. könnte aber auch andere Ursachen haben, die in der Veröffentlichung ebenfalls dargelegt werden: die zunehmenden Nährstoffeinträge, besonders aus der Landwirtschaft, und der Temperaturanstieg infolge des Klimawandels. Der Ökologe Christoph Scherber von der Universität Münster kritisiert deshalb: "Aus diesen Daten auf eine Verbesserung der Wasserqualität zu schließen ist abenteuerlich. Die Wasserqualität unserer Fließgewässer und Seen ist nach wie vor schlecht, und landwirtschaftliche Stoffeinträge nehmen eher zu als ab."

Ein weiterer Kritikpunkt: Die neue Auswertung berücksichtigt lediglich die Insektenzahl, nicht die Arten. Hinter einer großen Zahl an Insekten kann aber beispielsweise auch eine Mückenplage stecken. "Entscheidend ist die Vielfalt", argumentiert Scherber. Denn die Verarmung von Ökosystemen ist das eigentlich Fatale. Dann fehlen Bestäuber. Fressfeinde wie Vögel und Amphibien verschwinden auch. Es wäre aufwendiger, aber aussagekräftiger gewesen, nach bedrohten Arten und auch nach Schadinsekten aufzuschlüsseln, findet Scherber.

"Die Zusammenschau der Daten ist trotzdem wertvoll: Sie sagt uns, dass die Zeit drängt. Denn Mitteleuropa ist ein Hotspot des Rückgangs", resümiert Seibold. Sie legt auch nahe, welche nächsten Schritte sinnvoll wären: Der Lebensraum "Land" muss genauso grundlegend geschützt werden wie der Lebensraum "Wasser", den die Wasserrahmenrichtlinie vom Fluss bis zum Kleingewässer vollständig abdeckt.

"Außerdem brauchen wir dringend genauere Monitoringdaten. Aus diesen müssen wir herauslesen, was die Hauptursache für das Insektensterben ist: Sind es die landwirtschaftlichen Kulturen, die Verarmung an Nistplätzen und Nahrung oder die Pestizide?", erläutert Seibold. Erst wenn man die großen Stellschrauben kennt, könne man gezielt und effizient gegen das Insektensterben vorgehen.

(bsc)