Generative KI – Abrissbirne für digitale Barrieren

KI kann den Raum erfassen, Texte vereinfachen und Barrieren abbauen. An der Ampel würde ihr Gastautor Michael Wahl aber noch nicht vertrauen.

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(Bild: Robert Kneschke/Shutterstock.com)

Lesezeit: 7 Min.
Von
  • Michael Wahl
Inhaltsverzeichnis

Ein Fahrrad ist nicht leicht zu reparieren, aber es trifft uns alle einmal, dass ein Rad gewechselt oder eine Rückleuchte montiert werden muss. Zum Glück gibt es Youtube oder auch die gute alte Bedienungsanleitung. Leute vom Fach haben aufgeschrieben, wie das geht, und Schritt für Schritt kann man Teil für Teil montieren. Aber was, wenn man blind ist oder es nur eine Anleitung auf Japanisch gibt? Barriere in beiden Fällen. Die Lösung, die mich blind oder auf Japanisch ein Fahrrad reparieren lässt, kann "Künstliche Intelligenz" heißen.

Man kann sich per Sprache (für Blinde praktisch) oder per Tastatur an die Künstliche Intelligenz seiner Wahl wenden. Schritt für Schritt wird beschrieben, was zu tun ist. Und es kommt noch besser: Auch die richtigen Werkzeuge werden erkannt, wenn man diese in die Kamera hält und danach fragt, sogar, ob man sie korrekt einsetzt. Die KI führt in der jeweils benötigten Art der Wahrnehmung – Hören oder Sehen – im ganz eigenen Tempo durch den gesamten Reparaturprozess.

Ein Gastbeitrag von Michael Wahl

Michael Wahl ist Leiter der Überwachungsstelle des Bundes für Barrierefreiheit von Informationstechnik. Der Magister in Politikwissenschaft und Philosophie ist blind und daher auf barrierefreie Angebote angewiesen.

In den vergangenen Wochen ist viel über die KI, über Ihre Möglichkeiten, aber vor allem über den verantwortungsvollen Umgang mit KI, über ethische Grenzen und rechtliche Pflichten von Konzernen und Forschenden verhandelt und geschrieben worden. KI wird mittlerweile von der optimierten Jobsuche oder Einkaufstour bis zum Endzeitszenario à la Terminator-Skynet, bei welchem die Maschinen die Menschen unter ihre absolute Kontrolle bringen, gedacht. Überall Möglichkeiten, positive wie negative. Der positive Aspekt, der hier betrachtet werden soll: KI kann digitale Barrieren abbauen und damit Menschen mit Beeinträchtigungen und vielen anderen helfen.

Generative KI kann Texte und Bilder erstellen. Diese einzigartigen und originellen Erzeugnisse basieren auf Trainingsdaten, die wiederum von Menschen geschaffen wurden. An dieser Stelle eröffnen sich die Möglichkeiten zur digitalen Barrierefreiheit. Wenn KI durch die Erfahrungen und das Denken und Handeln von Menschen mit Beeinträchtigungen nach Lösungen strebt und diese entwickelt, sind barrierefreie Strukturen für unsere digitale Gesellschaft zukünftig viel eher normal als etwas Besonderes.

Wie beispielsweise ein blinder Mensch die Welt wahrnimmt, ist einer der Schlüssel für barrierefreie Kommunikation. Bereits heute gibt es Apps auf dem Markt, die die Umgebung ziemlich genau beschreiben, beispielsweise bei der App "Bemyeyes". Wenn man einen Raum blind betritt, ist es wichtig zu wissen, wo Hindernisse stehen könnten, wo man sich setzen kann, wo Türen oder auch Schalter oder Verkaufstheken sind. Dank dieser KI-getriebenen Apps ist das mittlerweile kostenlos und in Sekunden möglich. Diese räumlichen Grundinformationen werden problemlos in Text übersetzt und damit für Menschen mit Sehbehinderung wahrnehmbar.

Auch Farben werden beschrieben und Gegenstände erkannt. Wenn man etwas aus dem Kühlschrank greift, wird das Produkt Tilsiter Käse mit korrektem Fettgehalt als Bioprodukt in Scheiben und Gewichtsangabe zuverlässig vorgelesen. Man kann ohne sehende Hilfe problemlos zwischen Marmeladen, Gemüsebrotaufstrichen, Kapern und Senf unterscheiden. Und zwar ohne jedes Mal das Glas öffnen zu müssen. Einfach genial. Das spart viel Zeit und Mühe.

Natürlich gibt es auch Grenzen, etwa beim korrekten Erkennen von Emotionen. Als ich beispielsweise mit wütendem, stark verkniffenem Ausdruck und gefletschten Zähnen auf Wunsch der Tochter ganz böse in die Kamera schaue, erkennt die App einen breit lächelnden Mann mittleren Alters. Die Zornesfalten auf meinem Gesicht machen mich älter (vorher war ich nur ein Mann) und der wie bei einem wütenden Schrei geöffnete Mund mit den blanken Zähnen wird zum Lächeln. Mit Altersangaben zu Personen und deren emotionalen Zustand ist also Vorsicht geboten.

Bemyeyes setzt parallel zur KI ein weltweit agierendes Netzwerk von sehenden Freiwilligen ein, die per Videocall den blinden Fragenden live helfen können. Dann kommen noch die Daten der KI hinzu, die von blinden Menschen bewertet werden. Der so vorhandene Schatz an Daten zur Transformation von Bildern in Text und umgekehrt scheint einmalig wertvoll für KI zu sein. Denn nicht ohne Grund ist Bemyeyes die erste App, die als Trainingspartner von ChatGPT fungiert. Die KI lernt von blinden Menschen also das Sehen.

Neben dem Wahrnehmen ist das Verstehen ein zweiter wichtiger Aspekt der digitalen Barrierefreiheit, der durch die generative KI umgesetzt werden kann. Menschen, die im Umgang mit der Sprache noch nicht absolut standfest sind, gibt es viele. Menschen mit Lernbehinderungen oder Menschen mit geringen Sprachkenntnissen oder funktionalem Analphabetismus sind naheliegende Profiteure von Leichter Sprache. Und: Inwieweit ist man selbst Teil dieser Gruppe, wenn man wissenschaftliche Artikel der Pharmakologie, Humangenetik oder statistischer Berechnungen nachvollziehen möchte? Jeder Mensch kann sich als Teil der Gruppe fühlen, etwa wenn er sich Abstracts aus der Wissenschaft in Leichter Sprache wünscht.

Es liegt im Verhältnis zwischen Text und Lesenden, welche Art der Sprache oder Übersetzung es braucht. Einfache Sprache oder Leichte Sprache, wie diese ausgestaltet ist, dies differenziert sich aktuell im deutschsprachigen Raum aus. Während Leichte Sprache bestimmten Regeln folgt, etwa zur Satzlänge, ist Einfache Sprache undefiniert.

Wie diese Sprache durch KI übersetzt, zusammengefasst oder vorbereitet wird, daran arbeiten einige KI-Startups. Wichtig beim Thema Sprache beziehungsweise den Zusammenfassungen ist aber stets die menschliche Schlussredaktion. Die Leichte Sprache muss in den Händen der Nutzergruppen bleiben, wie auch die Einfache-Sprache-Übersetzung stets ein erster Ansatz zum Verstehen komplexer Inhalte bleiben muss. KI ist ein fleißiger Ersthelfer, ein Freund und Vorbereiter und ein perfekter Ansatz gegen das weiße Blatt. Die Sprache und deren Entwicklung werden wir Menschen uns aber nicht nehmen lassen.

Wenn man an digitale persönliche Assistenten für Menschen mit Beeinträchtigungen denkt, so könnten auch diese Beipackzettel zusammenfassen, Verträge in Deutsche Gebärdensprache oder Leichte Sprache übersetzen und via App Blinde über grüne Ampeln führen. Richtig, hier ist ein Stopp zu setzen. Bei aller Euphorie über die Möglichkeiten, die sich für Menschen wie mich bieten und der Freude, das eigene Leben immer autonomer gestalten zu können, sind auch Grenzen zu wahren. Sicherheit ist wichtiger als Autonomie und an dieser Stelle muss KI enden. Bei Beipackzetteln frage ich doch besser den Apotheker, Verträge lasse ich gegenprüfen und auf meinen Blindenstock werde ich so schnell nicht verzichten.

KI ist für viele digitale Barrieren aber die beste Abrissbirne und wird – so hoffe ich – so eingesetzt werden, dass Menschen mit Beeinträchtigung, also auch im hohen Alter oder mit Sprachbarrieren, von barrierefreien KI-Lösungen in der Zukunft profitieren können. Bereits heute, noch vor dem eigentlichen Wirken des demografischen Effekts, profitieren 10 Prozent der Menschen in Deutschland von der digitalen Barrierefreiheit. KI und digitale Barrierefreiheit sind sozial notwendig und ökonomisch nachhaltig – fangen wir also an.

(emw)