Geoengineering-Studie veranschlagt 80 Milliarden Dollar für Gletscher-Vorhang

Vorhänge im Meer sollen das Abschmelzen polarer Gletscher wie dem Thwaites-Gletscher verzögern. Doch diese lokale Geotechnik ist umstritten.

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Schmelzender Gletscher

(Bild: Michal Balada/Shutterstock.com)

Lesezeit: 6 Min.
Von
  • Hanns-J. Neubert
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Er ist das derzeit größten Sorgenkind der Klima- und Polarforscher: der Thwaites-Gletscher in der West-Antarktis. Wie ein Pfropfen verhindert er das Abrutschen des Westantarktischen Eisschildes ins Meer. Doch er ist bereits so stark abgeschmolzen, dass er jetzt offenbar kurz vor seinem Kipppunkt seht. Vielleicht ist dieser Punkt sogar schon überschritten, wie Computersimulationen vermuten lassen. Dann wäre sein Verschwinden nicht mehr aufzuhalten, selbst wenn die Erderwärmung aufhören sollte. Löst er sich auf, rutscht das gesamte westantarktische Eisschild hinterher. Die Folge: Der Meeresspiegel steigt in den nächsten Jahrhunderten kontinuierlich um 5,3 Meter.

Die sogenannte Erdungslinie, die Stelle, an der sich ins Meer abfließende Gletscher vom Boden abheben, im Meerwasser aufschwimmen und tauen, verschiebt sich unter dem Thwaites nämlich immer weiter zurück in Richtung Ufer. Das passiert, weil warmes Ozeanwasser die ins Meer reichende Gletscherzunge, das Schelfeis, unterspült und von unten her wegtaut. Die Schelfeisplatte kommt früher ins Schwimmen und bricht ab.

Dem Glaziologen Michael Wolovick kam 2016 die Idee, mit einem am Boden verankerten Vorhang, der von Auftriebskörpern in der Senkrechten gehalten wird, dem warmen Wasser den Zugang zu versperren. Damals arbeitete er noch an der Princeton Universität in New Jersey, inzwischen forscht er in Bremerhaven am Alfred-Wegener-Institut für Polar- und Meeresforschung. Das Vorhang-Konzept verfolgt er allerdings nur noch nebenbei weiter.

Aufgegriffen hat diese Idee John Moore, Glaziologe am Arktischen Zentrum der Universität von Lappland im finnischen Rovaniemi und heute der Hauptverfechter des Plans. Er untersucht seit 2018, wie und ob sich so ein lokales Geoengineering verwirklichen lässt.

Vor einem Jahr veröffentlichten Michael Wolovick und John Moore zusammen mit Bowie Keefer von der Universität von British Columbia in Vancouver eine detaillierte Machbarkeits- und Kostenstudie für einen 80 Kilometer langen Vorhang der vom Meeresgrund in 600 Metern Tiefe 100 bis 250 Meter hoch reicht. Er soll das warme Tiefenwasser zurückhalten, es aber dem kalten ozeanisches Zwischen- und Oberflächenwasser ermöglichen, über den Vorhang hinweg zu strömen. Auch abgebrochene, kleinere und flachere Eisberge können darüber hinweg ins offene Meer treiben.

Dieser Kunststoffvorhang soll mindestens 25 Jahre halten, um dann während der nächsten Jahrzehnte oder auch Jahrhunderte immer wieder erneuert zu werden.

Das Abschmelzen des Thwaites-Gletschers, lässt sich dadurch natürlich nicht verhindern, aber die Menschheit hätte die Chance, Zeit für den Um- und Rückbau der Küstenstädte überall auf der Erde zu gewinnen, ist Moore überzeugt. Er kann sich ähnliches auch für grönländische Gletscher vorstellen.

Billig wäre so eine Geo-Ingenieurskonstruktion zwar nicht, aber um Größenordnungen preiswerter, als die globale Küstenlinie Stück für Stück gegen Überflutungen zu sichern. Das wäre nämlich unvermeidlich, um mit dem Meeresspiegelanstieg durch abgeschmolzene Gletscher mitzuhalten.

Die Installation vor Thwaites würde nach den Berechnungen der Forscher 40 bis 80 Milliarden US-Dollar kosten, der Unterhalt pro Jahr dann ein bis zwei Milliarden. Ein globaler Küstenschutz dagegen käme in jedem Jahr auf ungefähr 40 Milliarden US-Dollar, berechneten die Forscher.

So einleuchtend der Plan, so heikel sind aber die technischen Herausforderungen und so unberechenbar die Reaktionen der natürlichen Umwelt.

Der nächstgelegene Standort für die Herstellung eines solchen Vorhangs wäre Punta Arenas an der Magellanstraße im äußersten Süden Chiles. Von dort müssten leistungsstarke Eisbrecher die großen schwimmenden Module über 2500 Kilometer durch den Ozean südlich von Kap Hoorn und durch die Meereisschollen und Eisberge der vielerorts oft unzugänglichen Amundsen-See vor den Gletscher schleppen. Überdies sind die Taucherarbeiten in diesen Gewässern herausfordernd.

Weitgehend unklar bleibt sogar in der Machbarkeitsstudie, wie der Vorhang die Meeresströmungen und die jahreszeitliche Schichtung der Wasserkörper in der Bucht ändert, in die der Gletscher mündet. Nach Meinung des Polar-Ozeanographen Lars Smedsrud von der Universität Bergen in Norwegen, der in einem Nature-Beitrag zitiert wird, würde die Idee die Erwärmung des Ozeans nicht verhindern, sondern nur die lokale Erwärmung an den Gletscherausläufen reduzieren. "Der Ozean würde sich anderswo stärker aufheizen und dort vielleicht mehr Schaden anrichten."

Bedenken gibt es auch von Biologen. Der Vorhang könnte den Nährstofftransport zwischen Gletscher und Meer blockieren und so Ökosysteme verschieben. Außerdem müsse man damit rechnen, dass der Vorhang bewächst, sagt Meeresbiologe Ulf Riebesell vom Geomar Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung in Kiel gegenüber der Neuen Zürcher Zeitung. "Das schafft ein neues Ökosystem, das da nicht hingehört". Die neuen Organismen würden mit den natürlichen Lebensgemeinschaften um Nahrung konkurrieren.

Schon 2018 hatten sieben namhafte Polarforscher um Twila A. Moon vom National Schnee- und Eis-Datenzentrum der Universität of Colorado in Boulder die Vorhang-Idee scharf kritisiert. Ihr Resümee: "Wir sind der Meinung, dass die begrenzten Mittel, die zur Verfügung stehen, stattdessen dazu verwendet werden sollten, die Ursachen für den beschleunigten Eisverlust zu bekämpfen – nämlich Emissionen und den vom Menschen verursachten Klimawandel."

Auch wenn es wohl noch Jahrzehnte dauern wird, bis so ein Vorhang einsatzbereit ist, begannen Forscher am Zentrum für Klimareparatur der Universität Cambridge schon mit Tests von Vorhangmaterialien in Wassertanks, wie Moore dem Magazin "Business Insider" berichtete. Sobald die Testvorhänge ihre Funktionalität bewiesen hätten, würden man sie ab Sommer 2025 am Boden des Flusses Cam in England verankern und auch hinter Booten herziehen, um ihre Strömungsfestigkeit zu prüfen.

(jle)