Globale Lieferketten: Wie sich die Krise auf die kommenden Monate auswirkt

Die Lieferketten sind ins Stocken geraten. Experte Patrick Lepperhoff erklärt im Interview mit heise online, wo es hakt und welche Lehren daraus gezogen werden.

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(Bild: Travel mania/Shutterstock.com)

Lesezeit: 11 Min.

Never change a running system: Die Lieferketten wirkten in Zeiten der Globalisierung unerschütterlich – und der Druck zur Innovation schien gering. Doch Covid-19, der Ukrainekrieg und die Blockade des Suezkanals haben kräftig an der Selbstverständlichkeit, dass es einfach läuft, gerüttelt. Neben schicksalhaften Entwicklungen kamen dabei auch systematische Schwächen negativ zum Tragen: Ausgerechnet beim Transport elektronischer Komponenten und anderer Güter wurde die Digitalisierung nahezu vergessen. Und Hersteller wissen teilweise gar nicht, wer alles an Bauteilen mitwirkt, die sie von Zulieferern bekommen.

Im Gespräch mit heise online erklärt Patrick Lepperhoff, welche Lösungen er zusammen mit seinen Kunden in der Lieferketten-Krise erarbeitet und welche Lehren für die Zukunft gezogen werden. Lepperhoff ist Experte für Supply Chain Management und Logistik bei Inverto, einer Tochterfirma der Boston Consulting Group (BCG). Hauptsächlich kümmert er sich um Kunden aus Industrie und Produktion.

Patrick Lepperhoff ist Experte für Lieferketten bei Inverto, einem Tochterunternehmen der Boston Consulting Group.

(Bild: Inverto)

Herr Lepperhoff, Sie beraten Kunden der produzierenden und verarbeitenden Industrie. Wir hören und lesen fast täglich von großen Problemen in der Lieferkette, aktuell besonders durch die Covid-Lockdowns in China. Mit welchen Fragen kommen die Kunden diesbezüglich auf Sie zu?

Ein ganz großes Thema ist das Herstellen von Transparenz. Die Kunden fragen sich: Wie sehen meine Lieferketten eigentlich genau aus? Manchmal ist – je nach Industrie – nur bekannt, wer der Zulieferer des Zulieferers ist. Häufig ist aber nicht bekannt, welche weiteren Vorlieferanten in der Lieferkette involviert sind. Das macht natürlich auch die Bewertung von Risiken oder das Definieren und Ergreifen von Alternativmaßnahmen schwer. Neben der Herstellung von Transparenz und der Erstellung von Maßnahmenplänen unterstützen wir einige Kunden auch in sogenannten Task Forces, in denen wir die Kunden beim Engpass-Management betreuen. Wir halten einen sehr engen Draht zu den Lieferanten, um gemeinsam mit ihnen zum Beispiel die Verfügbarkeit bestimmter Teile zu priorisieren – abhängig davon, welche Produkte für unsere Kunden Prio-A-Produkte sind. Bei Kunden, die selbst Zulieferer sind, schauen wir in Absprache mit deren Kunden, wie eine gemeinsame Priorisierung entlang der Wertschöpfungskette aussehen kann.

Ist das Herstellen von Transparenz eine einfache Aufgabe?

Es gestaltet sich an einigen Stellen sehr aufwendig, ein Maß an Transparenz zu schaffen, das in der Vergangenheit nicht vorhanden war. Im Supply Chain Management gab es in den vergangenen 15 Jahren eine weitreichende Entwicklung: Angefangen vom klassischen Mittelständler, der mit Transparenz und Informationsbereitstellung sehr zurückhaltend war und teils immer noch ist, hin zu größeren und weitläufiger vernetzten Lieferketten. Diese Umstellung ist oft erfolgt, ohne dass der Informationsfluss entlang der Kette mit gewachsen ist. Dieser ist ganz häufig noch so, wie er damals schon war: Da gibt es eine klassische Ausschreibung, dann wird ein Lieferant nominiert und der liefert das Teil. Das "Wie" liegt in dessen Verantwortung. Da sind an vielen Stellen noch Vorbehalte zum Informationsaustausch vorhanden, die erstmal aufgebrochen werden müssen.

Ist denn das Bild, das die Allgemeinheit in Europa von der Lieferketten-Situation in China hat, überhaupt zutreffend? Wie wird das vor Ort gesehen?

Wir haben einen Standort in Shanghai mit lokalen Kollegen und bekommen somit auch Informationen über die Situation vor Ort. Diese decken sich gerade bei den Themen Lieferketten, Hafen und Versorgungswege sehr stark mit dem, was wir auch in der Öffentlichkeit aktuell wahrnehmen.

Infolge der Lieferkettenprobleme könnte in der Vorweihnachtszeit manches Regal nicht so gut gefüllt sein. Im Bild: Ein Lager des Online-Einzelhändlers Amazon im osthessischen Bad Hersfeld.

(Bild: dpa, Uwe Zucchi)

Wie schätzen Sie die Situation mit Blick auf Fabriken und Häfen ein?

Die Logistik ist im Dauerkrisenmodus. Wir haben schon seit knapp drei Jahren starke Probleme in den Lieferketten. Das hängt natürlich ganz maßgeblich auch an den Häfen, weil der Großteil des Handelsvolumens und besonders der Elektronikkomponenten über den Seeweg verschifft wird. Wir sehen jeden Tag auf den gängigen Schiffs-Tracking-Portalen, wie sich das Bild rund um die chinesischen Häfen, insbesondere natürlich vor Shanghai, gestaltet. Shanghai ist der mit Abstand wichtigste und größte Hafen, der das höchste Handelsvolumen abfertigt. Die Häfen sind aber nur ein Teil des Problems. Gravierenden Einfluss hat auch der ganze Vor- und Nachlauf, also der Transport der Komponenten vom Schiff mit Lkws zu den verarbeitenden Firmen. Die Container können nicht entladen werden. Dies wiederum führt zu einer weiteren Steigerung des Containermangels.

Selbst ein logistisch recht gut durchorganisierter Konzern wie Apple hat inzwischen lange Lieferzeiten für immer mehr Produkte. Ist das Schlimmste bald überstanden oder wird es noch schlimmer werden?

Die Effekte werden uns in den nächsten Wochen und Monaten erst richtig erreichen und die Verzögerungen noch länger anhalten. Wenn Shanghai den Betrieb wieder richtig aufnimmt, werden wir in der Folge Staus vor den Häfen in Europa, zum Beispiel in Hamburg und Rotterdam haben, die wir jetzt schon zum Teil sehen. Das wird die Lage nicht entspannen. Ich gehe davon aus, dass sich die aktuelle Engpasssituation in der Seefracht noch mindestens bis in den Herbst hinein auswirken wird.

Dann wird es wieder besser?

Es ist schon davon auszugehen, dass sich die Verzögerungen abbauen werden, wenn der Hafen in Shanghai und insgesamt die Wirtschaft in Asien wieder zu einem normalen Rhythmus zurückfinden. Zur Vollständigkeit gehört aber auch, dass wir in den vergangenen drei Jahren auch infolge anderer Themen neben der Pandemie Probleme in den Lieferketten gesehen haben. Sei es durch den blockierten Suezkanal, sei es durch Probleme in Häfen oder durch das Thema Containerverfügbarkeit. Wir haben in der Seefahrt ein paar strukturelle Themen, die jetzt nach und nach angegangen werden müssen. Das ist aber nichts, was von heute auf morgen lösbar wäre. Deshalb werden uns diese Themen auch noch weiter beschäftigen.

Welche Rolle spielt dabei die Digitalisierung? Es ist immer wieder zu lesen, dass für Kunden gar nicht wirklich klar ist, wo sich ein Container gerade befindet.

Da gibt es noch ein immenses Potenzial. In der Logistik werden immer noch gerne zahlreiche Durchschläge als Frachtpapiere mitgenommen – unabhängig davon, ob es sich um die Luft-, die See- oder die Straßenfracht handelt. Dabei ist es insbesondere mit Blick auf das Risikomanagement wichtig, frühzeitig zu wissen, was mit "meinem" Schiff oder "meinem" Container los ist.

Was kann man dagegen tun?

Es gibt erste Versuche und Modelle, Container zum Beispiel mit Sensorik auszustatten. Bei klimatisierten Transporten können die Sensoren tracken, wie es um die Temperatur im Container steht, damit bei Abweichungen Gegenmaßnahmen eingeleitet werden können. Das sind aber erste Ansätze und nichts, was bislang flächendeckend verfügbar ist.

Kann den drohenden Staus in europäischen Häfen vorbereitend etwas entgegengesetzt werden, um die Auswirkungen zu schmälern?

Die Häfen bereiten sich schon darauf vor. Das hat aber, ähnlich wie in China, Grenzen. Es gibt nur eine gewisse Anzahl Kais, es gibt nur eine bestimmte Anzahl Hafenkräne, um die Schiffe zu entladen. Und es müssen natürlich auch Mitarbeiter verfügbar sein, um die Schiffe zu löschen.

Ist die Elektronikbranche im Vergleich zu anderen stärker betroffen?

Grundsätzlich sind alle Produkte, die einen starken chinesischen oder globalen Fußabdruck haben, betroffen. Die Elektronikkomponenten gehören definitiv dazu. Das sind aber zum Beispiel auch Kleidung und Chemikalien, wo es einen intensiven Handel gibt. Betroffen sind zudem Komponenten verschiedenster Art, die in der Industrie eingesetzt werden. Elektronik fällt in solchen Situationen immer schnell auf, weil diese automatisch mit Asien in Verbindung gebracht wird.

Hat das Auswirkungen auf das Weihnachtsgeschäft?

Es ist davon auszugehen, dass wir zumindest vereinzelt im Weihnachtsgeschäft Artikel nur in geringen Mengen haben, weil sich die Lieferketten bis dahin nicht komplett normalisiert haben. Wie groß die Auswirkungen sind, hängt davon ab, wie sich die Situation jetzt weiterentwickelt.

Gehen wir mal von Idealbedingungen aus. Wie lange würde es dann bis zur Normalität dauern?

Da gibt es verschiedene Annahmen und Gedankenspiele. Diese hängen damit zusammen, wie die Kostensituation ist und wie sich die gesamtwirtschaftliche Lage verändert. Wir sehen bei unseren Kunden im Moment, dass verstärkt darüber diskutiert wird, ob man nicht Produktionen zurückholt nach Europa. Das ist aber nichts, was von heute auf morgen umsetzbar ist. Insofern werden wir diese Themen sicher noch mindestens zwei bis zweieinhalb Jahre auf der Agenda haben – eher sogar länger.

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Kann die Verlagerung von Produktionsstätten angesichts der Vorlaufzeiten wirklich helfen?

Wir werden unmittelbar keine großen Verlagerungen sehen. Wir sehen aber, dass sich viele Unternehmen Gedanken machen. Die stark gestiegenen Logistikkosten spielen dabei auch eine Rolle, denn es ist ein Unterschied, ob ich 2000 Euro oder 12000 Euro für den Container bezahle. Wir gehen zwar davon aus, dass diese Preise nicht dauerhaft auf dem hohen Level bleiben werden, sondern wir erwarten schon in den nächsten Monaten eine Entspannung – zumindest nach aktuellem Stand. Aber auch das Thema Nachhaltigkeit rückt immer stärker in den Fokus und stellt etwa an die Schiffsantriebe ganz andere Anforderungen. Das ist ein Aspekt, den die Unternehmen mit in ihre Kalkulationen einbeziehen müssen. Das wird zukünftig zusammen mit dem Emissionshandel einen gravierenden Einfluss auf die Transportkosten haben. So günstig wie vor der Pandemie werden sie wohl nicht mehr.

Kann die Europäische Union oder kann Deutschland etwas tun, um die Lage zu verbessern?

Kurzfristig ist das kaum möglich. Perspektivisch ist es schon denkbar, Anreize zu schaffen, um Produktion wieder nach Europa zu verlagern. Dazu müssten Lagerflächen zur Verfügung gestellt und Gewerbegebiete ausgewiesen werden, damit Ansiedlungen mit optimalen Logistikverbindungen möglich sind. Und es geht insgesamt um das Thema Infrastruktur: Ich komme aus Dortmund, die Autobahn 45 liegt hier vor der Tür, die jetzt aber für mehrere Jahre gesperrt werden muss, da die Brücken erneuert werden. Das sind alles Faktoren, die die Lieferketten nicht vereinfachen. Da gibt es im politischen Raum schon Möglichkeiten zur Steuerung, indem man diese Aufgaben angeht und damit die Rahmenbedingungen verbessert.

Die Coronapandemie wird zuallererst mit Problemen in Verbindung gebracht. Es gibt aber – wie in der Arbeitswelt mit Remote-Arbeit – auch positive Veränderungen, die aus der Not heraus angestoßen wurden. Gibt es diese auch beim Thema Lieferketten?

Durchaus. Wir sehen in den Task Forces, dass Lieferanten und Abnehmer enger zusammenrücken. Vorher sind alle davon ausgegangen, dass Lieferketten schon so funktionieren, wie sie aufgesetzt sind. Und das war im Großteil der Fälle ja auch so. Jetzt stellen wir fest, dass es nicht naturgegeben ist, dass die Lieferketten störungsfrei funktionieren. Das hat Themen wie Risikomanagement und Risikotracking stärker in den Fokus gerückt, ebenso wie die engere Vernetzung. Und das ist positiv zu bewerten.

(mki)