Immunsystem: Medizin hat die Unterschiede bei Frauen und Männern lange ignoriert

Das Geschlecht spielt eine größere Rolle bei Krankheiten, als die Medizin bisher wahrhaben will. Immunologen drängen nun darauf, ihm mehr Beachtung zu schenken.

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Von
  • Sandeep Ravindran
Inhaltsverzeichnis

Sabra Klein ist sich sehr bewusst, dass es auf das Geschlecht ankommt: Sie erforscht an der Bloomberg School of Public Health der Johns Hopkins University wie das biologische Geschlecht – definiert durch Merkmale wie unsere Geschlechtschromosomen, Sexualhormone und Fortpflanzungsgewebe – die Immunantwort beeinflusst.

Durch Forschung an Tiermodellen und Menschen hat sie gezeigt, wie und warum männliche und weibliche Immunsysteme unterschiedlich auf das Grippevirus, HIV und bestimmte Krebstherapien reagieren. Aber auch, weshalb Impfstoffe die meisten Frauen besser schützen und warum sie häufiger an schwerem Asthma und Autoimmunerkrankungen erkranken.

In den 1990er Jahren führten Immunologen solche Unterschiede häufig auf gesellschaftliche Normen, Rollen, Beziehungen, Verhaltensweisen und andere soziokulturelle Faktoren zurück und nicht auf biologische Unterschiede im Immunsystem. Obwohl beispielsweise dreimal so viele Frauen wie Männer an Multipler Sklerose erkranken, ignorierten sie, dass dieser Unterschied eine biologische Grundlage haben könnten.

Trotz dieser historischen "Bikini-Medizin"-Praxis – die davon ausgeht, dass die wesentlichen Unterschiede zwischen den Geschlechtern unter einen Bikini passen – ist heute Konsens, dass es sowohl biologische als auch soziokulturelle Geschlechtsunterschiede gibt. Und beide spielen eine Rolle bei der Anfälligkeit für Krankheiten, ganz gleich, ob man den Stoffwechsel, das Herz oder das Immunsystem betrachtet.

Besonders eindrücklich zeigt sich das bei Impfstoffen: Im Jahr 2010 analysierte Klein öffentlich verfügbare Daten zu einem etablierten, hochwirksamen Impfstoff gegen Gelbfieber neu. Als sie die Daten nach biologischem Geschlecht sortierte, fand sie einen zuvor nicht erkannten Unterschied in der Immunreaktion auf den Impfstoff: Frauen zeigten eine stärkere Reaktion und wurden möglicherweise besser geschützt.

Dieser Text stammt aus: MIT Technology Review 8/2022

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Etwa zur gleichen Zeit war sie einem Rätsel auf der Spur, das die Immunologie schon länger beschäftigte: Weshalb schützen Grippe-Impfstoffe Frauen tendenziell besser und weshalb verlaufen Grippe-Infektionen bei ihnen schwerer?

Kleins Arbeit legt nahe, dass diese biologischen Geschlechtsunterschiede beeinflussen, wie wir auf Viren reagieren. Es ist bekannt, dass Frauen nach Impfungen mehr Nebenwirkungen melden, und lange Zeit wurde angenommen, dass dies eher mit ihrem sozialen Geschlecht zusammenhängt: vielleicht zögern Männer, solche Ereignisse zu melden, oder Frauen berichten eher von Schmerzempfindungen? In den späten 2000er Jahren zeigten Klein und andere jedoch, dass Frauen zusätzlich zu diesen Unterschieden weitaus weniger Impfstoff benötigen, um die gleiche Antikörperreaktion hervorzurufen wie Männer.

Diese Ergebnisse waren "wirklich bahnbrechend", sagt Christine Stabell Benn vom Department of Clinical Research am dänischen Odense University Hospital. "Die Forschungsergebnisse von Sabra Klein und anderen zeigen ganz klar, dass wir geschlechtsspezifische Impfprogramme brauchen."

Wo die Ursache dieser Unterschiede liegt und welche Bedeutung es für die Entwicklung von Medikamenten hat, lesen Sie in der aktuellen Ausgabe 08/2022 von MIT Technology Review.

(jsc)