Large Hadron Collider: Supersymmetrie auf dem Prüfstand

Zwar bestätigen Experimente das Standardmodell der Teilchenphysik, aber nicht auf alle Fragen hat es Antworten. Die könnte die Supersymmetrie liefern.

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(Bild: ATLAS Experiment © 2020 CERN)

Lesezeit: 18 Min.
Von
  • Michael Krämer
  • Jeanette Lorenz
  • Isabell Melzer-Pellmann
Inhaltsverzeichnis

Das Standardmodell der Teilchenphysik wurde wiederholt in Messungen bestätigt, hat aber auf einige fundamentale Fragen keine Antwort. Diese könnte möglicherweise die Supersymmetrie liefern. Daher zielen die LHC-Experimente auf die Suche nach supersymmetrischen Teilchen ab. Die Analysen sind außerordentlich vielfältig und sensitiv auf andere Erweiterungen des Standardmodells. In den letzten Jahren gelangen erstmalig sehr schwierige Suchen, etwa nach den supersymmetrischen Partnern des Higgs-Bosons.

Aus dem Wechselspiel experimenteller Ergebnisse und theoretischer Konzepte entstand in mehr als 50 Jahren das Standardmodell der Teilchenphysik, das die Struktur der Materie und die fundamentalen Wechselwirkungen auf mikroskopischen Längenskalen von bis zu 10-19 Metern bzw. Energien von bis zu einem Teraelektronenvolt (TeV) beschreibt – ein Elektronenvolt (eV) entspricht der Energie, die ein Elektron gewinnt, wenn es auf einer Strecke von einem Meter in einem Potential von einem Volt beschleunigt wird. Ein zentraler Baustein ist der Higgs-Mechanismus, durch den die Elementarteilchen ihre Masse erhalten. Mit der Entdeckung eines Higgs-Teilchens am Large Hadron Collider (LHC) am CERN im Jahr 2012 und der damit möglichen Erforschung des Higgs-Mechanismus begann ein neues Kapitel der Grundlagenforschung.

Diese Artikel wurde zuerst abgedruckt im Physik Journal 11, 2020.

Die Autoren

Michael Krämer hat an der Universität Mainz Physik studiert und promoviert. Er war wissenschaftlicher Mitarbeiter am DESY in Hamburg, am Rutherford Appleton Laboratory in Oxfordshire und am CERN in Genf sowie Lecturer und Reader an der Universität Edinburgh. Seit 2004 ist er Professor für Theoretische Physik an der RWTH Aachen.

Jeanette Lorenz (FV Teilchenphysik) hat in Erlangen und an der LMU München Physik studiert und Promotion sowie Habilitation an der LMU München abgeschlossen. Seit 2015 leitet sie eine Nachwuchsgruppe an der LMU München. Sie ist Mitglied der ATLAS-Kollaboration und leitet dort seit 2020 die Aktivitäten zur Interpretation der Suchen nach Supersymmetrie, zuvor die Suchen nach Gluinos und Squarks.

Isabell Melzer-Pellmann (FV Teilchenphysik) studierte Physik in Münster und promovierte an der Universität Mainz. Von 2009 bis 2014 leitete sie eine Nachwuchsgruppe am DESY und an der U Hamburg, seitdem gehört sie zur Belegschaft des DESY. Sie ist Mitglied der CMS-Kollaboration, wo sie seit 2013 verschiedene Aktivitäten zu aktuellen und zukünftigen SUSY-Suchen geleitet hat.

Das Standardmodell ist eine Quantenfeldtheorie, deren Struktur durch Symmetrien bestimmt wird: die Poincaré-Symmetrie, die als Raum-Zeit-Symmetrie aus der speziellen Relativitätstheorie folgt, sowie Symmetrien der inneren Freiheitsgrade von Elementarteilchen, die Eichsymmetrien. Die Vorhersagen des Standardmodells wurden zwar in zahlreichen Experimenten eindrucksvoll bestätigt, einige fundamentale Fragen der Physik kann es jedoch nicht beantworten: Was ist die Natur der Dunklen Materie? Wie entstand die Materie-Antimaterie-Asymmetrie? Was ist der Ursprung der Neutrinomassen? Diese Fragen stehen im Zentrum der aktuellen Grundlagenforschung und erfordern neue theoretische Konzepte.

Einer der interessantesten Ansätze, um das Standardmodell zu erweitern, ist die Supersymmetrie. Sie impliziert eine faszinierende Erweiterung von Raum und Zeit, indem sie diese mit der Quanteneigenschaft Spin verknüpft und so eine Beziehung zwischen Materieteilchen mit halbzahligem Spin (Fermionen) und Kraftteilchen mit ganzzahligem Spin (Bosonen) herstellt. Diese Verknüpfung stellt die einzig mögliche Erweiterung der Poincaré-Symmetrie dar.

In supersymmetrischen Theorien besitzt jedes fundamentale Teilchen einen supersymmetrischen Partner, dessen Spin sich um 1/2 unterscheidet. Zum Elektron gehört also ein supersymmetrisches Elektron mit Spin 0 (meist mit ẽ bezeichnet), zum Photon ein supersymmetrisches Photon mit Spin 1/2 (ỹ). Selbst eine minimale supersymmetrische Erweiterung des Standardmodells sagt somit eine Vielzahl neuer Teilchen vorher.

Supersymmetrie

Die Supersymmetrie lässt sich als allgemeines theoretisches Konzept auf vielfältige Weise in konkreten Modellen realisieren. Die supersymmetrische Erweiterung des Standardmodells mit der kleinsten Zahl neuer Teilchen ist das Minimale Supersymmetrische Standardmodell (MSSM). Darin wird das Standardmodell um ein weiteres Higgs-Dublett erweitert und jedem Teilchen ein Superpartner zugeordnet.

Die Erhaltung der Baryonenzahl, einer Quantenzahl proportional zur Differenz der Anzahl von Quarks und Antiquarks, führt im Standardmodell zur Stabilität von Protonen. In supersymmetrischen Erweiterungen des Standardmodells sind baryonzahlverletzende Prozesse nicht notwendigerweise unterdrückt und können zu schnellem Protonenzerfall führen. Im MSSM ist der Protonenzerfall durch das Postulat einer zusätzlichen Symmetrie – der R-Parität – unterdrückt. Deren Erhaltung beeinflusst die Phänomenologie des MSSM: Zum einen können supersymmetrische Teilchen nur in Paaren entstehen, zum anderen ist das leichteste supersymmetrische Teilchen stabil und somit ein Kandidat für Dunkle Materie. In supersymmetrischen Modellen ohne Erhaltung der R-Parität zerfällt das leichteste supersymmetrische Teilchen, was andere experimentelle Signaturen erwarten lässt. In diesem Beitrag konzentrieren wir uns auf die Suche nach Supersymmetrie im Rahmen des MSSM.

Wäre die Supersymmetrie exakt, müsste jedes supersymmetrische Teilchen dieselbe Masse wie sein Standardmodell-Partner besitzen. Da es experimentell bisher nicht gelungen ist, ein supersymmtrisches Teilchen mit der Masse des Elektrons nachzuweisen, kann die Supersymmetrie nur näherungsweise verwirklicht sein. Daher müssen supersymmetrische Teilchen deutlich schwerer sein als ihre Standardmodell-Partner. Unklar ist, welcher Mechanismus die Supersymmetrie brechen kann und auf welcher Massenskala supersymmetrische Teilchen zu finden sind.

Kann der Nachweis supersymmetrischer Teilchen mit den am LHC erreichbaren Energien nahe der TeV-Skala gelingen? Insbesondere zwei Aspekte lassen dies plausibel erscheinen: das Natürlichkeitsproblem und die Existenz Dunkler Materie.

Im Standardmodell sorgen Quantenfluktationen dafür, dass die Higgs-Masse vom Quadrat einer neuen fundamentalen Energieskala abhängt, zum Beispiel der Planck-Skala, EPlanck ≈ 1019 GeV, an der das Standardmodell durch eine Quantentheorie der Gravitation zu ersetzen wäre. Viele Physikerinnen und Physiker erachten die Sensitivität der experimentell zu MHiggs = 125 GeV bestimmten HiggsMasse auf die (unbekannte) Physik nahe der um viele Größenordnungen höheren Planck-Skala als unnatürlich. Das Prinzip der Natürlichkeit zieht sich durch die gesamte bekannte Physik: Eine Theorie gilt als natürlich, wenn die Naturgesetze bei kleinen Abständen oder hohen Energieskalen nicht die physikalischen Abläufe auf sehr viel größeren Abständen oder sehr viel geringeren Energies kalen beeinflussen. So ist es nicht erforderlich zu wissen, wie Quarks in Atomkernen zusammenspielen, wenn es darum geht, die Bahn des Mondes zu beschreiben.

Die Supersymmetrie modifiziert das Quantenvakuum, sodass die Higgs-Masse nicht mehr von der unbekannten Physik nahe der Planck-Skala abhängt und auf natürliche Weise im experimentell beobachteten Bereich liegt − falls die Massen der supersymmetrischen Teilchen nahe der TeV-Skala zu finden sind und damit prinzipiell in Reichweite des LHC. Ob das Natürlichkeitsproblem tatsächlich neue Physik am LHC impliziert, ob es eine andere Lösung hat oder ob es für die Theoriebildung gänzlich ohne Belang ist, wird aktuell kontrovers diskutiert.

Supersymmetrische Theorien sagen zudem die Existenz neutraler, schwach wechselwirkender Teilchen voraus, die in vielen Modellen stabil und damit gute Kandidaten für Dunkle Materie sind. Durch die Expansion des Universums friert die direkt nach dem Urknall entstandene Dunkle Materie aus. Dies führt zu der aus der kosmischen Hintergrundstrahlung bestimmten heutigen Dichte der Dunklen Materie, falls sie schwach wechselwirkt und ihre Masse auf der TeV-Skala liegt.

Die Supersymmetrie fasziniert als theoretisches Konzept und hat sich als phänomenologisch attraktives Modell etabliert. Aufgrund der vielen interessanten und teils experimentell herausfordenden Signaturen sind supersymmetrische Erweiterungen des Standardmodells eine hervorragende Blaupause für die Suche nach neuer Physik am LHC.