Missing Link: Wie die Kybernetik zur Waffe im Systemkonflikt wurde (Teil 1)

Seite 2: "Plankalkül"

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Die Idee, mithilfe von elektronischer Datenverarbeitung Ökonomie und Gesellschaft zu planen, ist so alt wie die Erfindung selbst. Konrad Zuse, der Erbauer des ersten Computers, taufte nicht nur seine Anfang der 1940er-Jahre entwickelte Programmiersprache auf den geradezu poetischen Namen "Plankalkül". Auch die Idee eines "Computer-Sozialismus" geht Zuses Freund und Biograf Arno Peters zufolge auf den Kreuzberger Tüftler zurück. Auf einem Vortrag im Deutschen Museum in München, vier Jahre nach dem Fall der Mauer, erläuterte er: "Mir schwebt so etwas vor wie eine Art Computer-Sozialismus […], vieles durchzusetzen, was die Idealisten in den sozialistischen Ländern im Osten dachten, was ihnen dann aber nicht ganz gelungen ist." Mit erheblicher Altersmilde findet Zuse hier geradezu euphemistische Worte für den im Weltmaßstab gescheiterten Versuch, Lenins Idee einer verallgemeinerten Reichspost als Gesellschaftsmodell zu etablieren.

Der schon erwähnte Stafford Beer war auch nicht zufrieden mit der Anwendung der Kybernetik im Westen, 1968 bemängelte er, die Informationstechnologie werde immer noch eingesetzt, um bestehende Prozesse nur zu beschleunigen, anstatt die Organisationen selbst radikal umzubauen nach den Erfordernissen der Kybernetik. Die derzeit propagierte agile Organisation kann demgegenüber als später Versuch gewertet werden, kybernetische Prinzipien in die Tat umzusetzen.

Grund genug für Beer, die Seiten zu wechseln und sein kybernetisches Glück im sozialistischen Chile zu versuchen. Die junge sozialistische Regierung unter Salvador Allende wollte mit dem sozialistischen Computernetzwerk Cybersyn die Ökonomie planen und regulieren. Es bestand aus einer Modellsimulation der chilenischen Volkswirtschaft, einer Software zur Überprüfung der Produktionsleistung der wichtigsten Fabriken, einer Kommandozentrale (boardroom) und einem nationalen Netzwerk von Fernschreibmaschinen, die mit einem Großrechner verbunden waren. Durch die tagesaktuelle Verarbeitung von Kennziffern aus ca. 600 Betrieben gelang tatsächlich so etwas wie eine kybernetische Regelung, die schnelle Reaktion auf Engpässe und Probleme erlaubte, von gesamtgesellschaftlicher Planung konnte allerdings keine Rede sein.

Das Projekt existierte nur von 1971 bis 1973 während der Präsidentschaft von Salvador Allende, die "Kommunistenmaschine" kann gut und gerne als Pariser Commune der sozialistischen Kybernetik gelten – romantisch verklärt, vielleicht auch, weil früh gescheitert, von den Putschisten um Pinochet gleich zu Klump geschlagen. Zum Generaldirektor des Cybersyn-Projekts hatten die Chilenen übrigens keinen Geringeren als Stafford Beer gewinnen können.

Mit dem Untergang der Sowjetunion vor nunmehr 30 Jahren konnte die Österreichische Schule schließlich einen späten, aber deutlichen Sieg im Wettstreit der ökonomischen Systeme erringen: "Der Markt", so die verbreitete Rede, hatte über "den Plan" gesiegt. Der planwirtschaftende Sozialismus hatte es doch tatsächlich geschafft, noch katastrophaler als der Markt-Kapitalismus zu wirtschaften – für jede Verschwendung, Umweltkatastrophe oder Irrationalität im Westen fanden sich noch monströsere Entsprechungen im Osten.

Um die Kybernetik, die als Manhattan-Projekt der bürgerlichen Ökonomie der Nachkriegszeit erheblichen Anteil gehabt hatte, war es merkwürdig still geworden – vielleicht weil sie doch zu allgemein formuliert war und sich in ihrem Sieg als common sense verallgemeinert bzw. in vielen Spezialdisziplinen aufgelöst hatte.

Heute, 70 Jahre nach ihren Anfängen, erlebt die Kybernetik eine Renaissance, und zwar an der Hand der Digitalkonzerne. Mit ihren Plattformen haben sie weltumspannende digitale Ökosysteme entwickelt, deren Spielregeln sie selbst entwerfen und steuern. Die im Namen enthaltene Analogie zu komplexen, nach dynamischem Gleichgewicht strebenden natürlichen Systemen, ist dabei ein deutlicher Hinweis auf deren kybernetischen Charakter.

Manche sagen, der heutige, auf Big Data, Algorithmen und Vorhersagelogiken beruhende digitale Kapitalismus, sei im Grunde eine Art kapitalistischer Planwirtschaft. Im zweiten Teil geht es auch um die Frage, ob an der Hand der Digitalkonzerne der Plan nicht doch noch dabei ist, einen späten Sieg zu erringen.

(bme)