Troll-Jäger

Inhaltsverzeichnis

Seinen Lebensunterhalt verdient Fredriksson mit Piscatus, einer Agentur, die Dokumente der öffentlichen Verwaltung für Journalisten beschafft. Dort sitzt er in einem winzigen Ein-Raum-Büro, beugt sich über die zwei Bildschirme seines Computers und loggt sich in das gruppeninterne Intranet ein. Er hatte es zur Koordination der Arbeit bei der Entlarvung der Avpixlat-Nutzer eingerichtet. Denn die Gruppe arbeitet meist dezentral. Sie hat derzeit zehn Mitglieder, alles Freiwillige, darunter ein Doktorand der Psychologie, ein paar Journalismus-Studenten, ein Grundschul-Bibliothekar, ein Autor einer Online-IT-Publikation und der Portier eines Krankenhauses.

"Ich mag es, Steine aufzuheben und zu sehen, was darunter liegt", sagt Fredriksson. "Ich mag die Freiheit, mich mit allem zu befassen, was mich interessiert." Avpixlat ist eine einflussreiche Stimme in Schwedens wachsender rechtspopulistischer Bewegung, die von der fremdenfeindlichen Panik getrieben wird, muslimische Einwanderer und Roma zerstörten das Land. Die Seite fixiert sich auf Geschichten über Vergewaltigungen und Morde durch Einwanderer, die nach ihrer Lesart durch das liberale Establishment vertuscht werden. Die Kommentare auf der Seite sind anonymisiert – alles, was man sehen kann, sind die Usernamen der Forumsteilnehmer.

Die Seite, und vor allem ihre kaum moderierte Kommentarfunktion, ist berüchtigter Ausgangspunkt wütender Online-Mobs. Fredrikssons Idee war es nun, mithilfe einer Datenbank aus Avpixlat-Kommentaren zu untersuchen, wie solche Cyber-Mobs sich mobilisieren. Avpixlat verwendet die beliebte Kommentar-Plattform Disqus, die auch Mainstream-Publikationen in Schweden und in der ganzen Welt einsetzen. Fredriksson hackte ein einfaches Skript zusammen und sammelte Avpixlat-Kommentare via Disqus’ öffentlicher API (eine Schnittstelle, über die Anwendungsprogramme automatisch Daten mit einem Server austauschen können).

Beim Aufbau der Datenbank bemerkte er jedoch etwas Seltsames: Zusammen mit jedem Benutzerpseudonym und den dazugehörigen Kommentaren erhielt er eine verschlüsselte Zeichenkette. Fredriksson erkannte sie als Ergebnis einer beliebten kryptografischen Funktion namens MD5-Hash.

Er hatte die kryptografischen Fingerabdrücke gefunden, die mit den Mail-Adressen der Avpixlat-Kommentatoren verbunden waren. Er konnte zwar nur die Hash-Werte sehen, nicht die zugehörigen Mail-Adressen. Doch er wusste: Würde er die Hash-Funktion auf eine Liste bekannter E-Mail-Adressen anwenden und die Ergebnisse mit den Hash-Werten in seiner Datenbank vergleichen, könnte er die Mail-Adressen herausfinden. "Zu diesem Zeitpunkt wusste ich, dass ich über etwas gestolpert war, woran die Zeitungen sehr interessiert wären", sagt er.

Fredriksson hatte tatsächlich eine Möglichkeit gefunden, eine grundlegende Frage zu beantworten: Wer sind die realen Personen hinter Avpixlats hasserfüllten Kommentaren? "Das war die große Unbekannte seit vielen Jahren", sagt er. "Dieser riesige weiße Fleck auf der Landkarte, den wir plötzlich ausfüllen konnten."

Zur Enttarnung der Avpixlat-Nutzer benötigte Researchgruppen nun also Listen mit E-Mail-Adressen, um sie mit der Datenbank abzugleichen. Besonders interessant waren Personen des öffentlichen Lebens, deren Mitwirken an einer rassistischen, rechtsradikalen Seite berichtenswert wäre. Schwedens liberale Informationsfreiheitsgesetze erwiesen sich in diesem Fall als Hilfe von unschätzbarem Wert. Researchgruppen reichte Informationsanfragen ein und sammelte Tausende E-Mail-Kontakte von Parlamentariern, Richtern und Regierungsbeamten. Insgesamt brachte Researchgruppen über 200 Millionen Adressen gegen die Avpixlat-Datenbank mit ihren 55.000 Konten in Stellung.

Zehn Monate arbeitete sich die Gruppe durch die Daten und identifizierte schließlich rund 6.000 Kommentatoren. Von ihnen wurden zwar nur eine Handvoll jemals öffentlich genannt. Das jedoch reicht für einen Skandal völlig aus. Nachdem die Untersuchung schon ein paar Monate im Gange war, sprach Fredriksson die Zeitung "Expressen" an, deren investigative Berichterstattung über schwedische Rechtsextreme er bewunderte. Die Zeitung kaufte die Story.

Als die Geschichte herauskam, entzündete sie einen Feuersturm. Wütende Internetnutzer sahen die Enthüllungen als Angriff auf die Meinungsfreiheit und verbreiteten als Retourkutsche Privatadressen der Researchgruppen-Mitglieder – eine bevorzugte Taktik der Online-Einschüchterung, bekannt als "doxxing".

Ein Mitglied namens My Vingren zog aus ihrer Wohnung aus, nachdem sie mitten in der Nacht Besuch von fremden Männern erhalten hatte. Die Adresse von Fredrikssons Eltern wurde in Umlauf gebracht. Eine Debatte über die ethischen Aspekte des Projekts tobte, und selbst politische Gegner der Schwedendemokraten äußerten Vorbehalte. Besonders ungeheuerlich fanden einige Kritiker, dass zwar viele der Bloßgestellten Politiker waren, einige jedoch Privatpersonen, darunter Geschäftsleute und ein Professor.

Doch der Aktivist steht zu Researchgruppens Arbeit an der Datenbank. "Es gibt legitime Gründe für Anonymität", sagt er. Anonymität sei allerdings nicht schützenswert, wenn sie zur Verbreitung von Hass dient. "Ich halte das Internet für eine wunderbare Sache und werde persönlich sauer, wenn einige Leute es missbrauchen."

Researchgruppen ging aus der Aufregung leicht geschockt, aber auch stolz hervor, mit einem neu gewonnenen Ruf als seriöse journalistische Kraft. Ein paar Monate später verlieh der schwedische Verband Investigativer Journalisten der Gruppe und der Zeitung eine Auszeichnung.

Aber wie zweischneidig der Kampf von Researchgruppen ist, zeigt ihr nächstes Projekt. Es basiert auf einer riesigen Datenbank, die zu Flashback gehört, Schwedens größtem Internet-Forum. Deren Nutzer reden nicht in erster Linie über ihren Hass auf Migranten (obwohl das einige tun), sondern über ihr Liebesleben, Videospiele, Kochen, Politik, Drogenkonsum, das gesamte Spektrum menschlicher Interessen. Im vergangenen Sommer löste Fredriksson einen Online-Aufschrei aus, als jemand auf Twitter fragte, ob Researchgruppen die Flashback-Datenbank habe – und er das bejahte. Auf die Frage nach dem Warum antwortete er brüsk: "Weil wir es können."

Sein Tweet war auch innerhalb von Researchgruppen umstritten, und Fredriksson versuchte später klarzustellen, das Team werde die Datenbank nach Netzhass durchforsten. Doch viele Flashback-Nutzer schienen nicht besänftigt.

"Researchgruppen hat geprahlt, Informationen zu haben, die private Geheimnisse verletzlicher Menschen gefährden", sagt Jack Werner, ein Journalist, der für die schwedische Tageszeitung "Metro" über Online-Kultur schreibt und langjähriger Flashback-Anwender ist. "Es war nicht sehr ethisch, sondern ungehobelt und kindisch." Anna Troberg, Vorsitzende der schwedischen Piratenpartei, nannte Researchgruppen gar eine "Bürgerwehr".

Am 9. Februar veröffentlichte "Aftonbladet" die erste Flashback-Enthüllung: Ein Facharzt in einem „großen schwedischen Krankenhaus“ hat "Tausende von Kommentaren" auf Flashback veröffentlicht, viele davon rassistisch und beleidigend. Über eine Patientin, die ein Kind aus Afrika adoptieren wollte, schrieb er etwa, das sei "bestimmt nur ein hübsches Accessoire", aber die Frau habe nicht daran gedacht, dass man „zwar einen Neger aus dem Dschungel holen kann, nicht aber den Dschungel aus dem Neger". Den Namen des Arztes hat "Aftonbladet" allerdings nicht veröffentlicht – "mit Rücksicht auf seine Familie".

Fredriksson versichert, Flashback-User könnten sicher sein, dass Researchgruppen nicht daran interessiert sei, medizinische Probleme bloßzustellen. "Wer über Sex, Drogen oder Gesundheit postet, ist unwichtig für uns", sagt er. "Schreibt aber jemand in anderen Bereichen von Flashback und verleumdet dabei Menschen? Das ist interessant, darum kümmern wir uns."

Wer aber kontrolliert die selbst ernannten Kontrolleure? Das Beispiel zeigt, wie nah beieinander die Vor- und Nachteile der Anonymität im Internet liegen. Ethische Gründe, sie zu bekämpfen, können sich rasch ins Gegenteil verkehren. Die meisten Schweden sehen Netzhass als unliebsame, aber unvermeidliche Nebenwirkung der Redefreiheit. Gesetzesinitiativen gegen Online-Mobbing treffen unweigerlich auf den Widerstand von Redefreiheits- und Internet-Aktivisten.

Hinzu kommen Schwedens Informationsfreiheitsgesetze, die leichten Zugang zu persönlichen Informationen über fast jedermann garantieren, einschließlich der zehnstelligen Personennummer, der Adresse und sogar des zu versteuernden Einkommens. Online-Belästigungen werden dadurch schnell besonders aufdringlich. Die Regierung verbreitet öffentlich Informationen, die außerhalb Skandinaviens nicht erhältlich wären, sagt Mårten Schultz, Juraprofessor an der Universität Stockholm. "Der Schutz der Privatsphäre ist außergewöhnlich schwach ausgeprägt."

Tatsächlich sind die Bürger in Schweden transparenter als in den meisten anderen europäischen Ländern. Über Webseiten von Auskunftsbüros wie Ratsit.se kann jeder zahlreiche persönliche Daten von Einwohnern abfragen. Eventuelle Straftaten seiner Nachbarn bekommt man über Lexbase.se heraus. Das schwedische Troll-Recherchekollektiv konnte daher sehr einfach an Falschparker- und Steuerinformationen gelangen.