Twitter: Der Seismograf der Welt

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Das Potenzial der Twitter-Daten und die Anwendungen erscheinen endlos: Unternehmen können Tweets nutzen, um darin Potenziale für neue Märkte auszuloten. Wie Behörden Datenschutz zum Wohle der Öffentlichkeit nutzen können, demonstrierten Forscher der Universität Rochester. Sie spürten mithilfe von Twitter schlechte Restaurants auf. Mehrere Monate hinweg analysierten sie insgesamt 3,8 Millionen Tweets von 94000 Twitter-Nutzern. Wenn eine Person einen Tweet aus einem Restaurant sandte, überwachte eine Software sein Ge-twittere einige Stunden lang und analysierte sie auf relevante Schlüsselwörter wie "sick", "stomach", "tummy", "throw up" und ähnliche. Am Ende gelang es den Forschern, aufgrund dieser Daten diejenigen Restaurants aufzuspüren, bei denen Lebensmittelvergiftungen am wahrscheinlichsten waren.

Tweets können sogar Leben retten:. "Nach dem letzten großen Erdbeben auf den Philippinen im Oktober wurde Twitter quasi als Sensor genutzt", sagt Alex Rutherford, Data Scientist beim UN-Projekt Global Pulse. "Anhand der Geodaten und Berichte konnte schnell Hilfe dorthin geschickt werden, wo sie dringend benötigt wurde." Bei Katastrophen ist das Echtzeit-Medium Twitter eine wertvolle Hilfe. Können Tweets aber auch Katastrophen ankündigen? Das Programm Global Pulse der Vereinten Nationen will aus dem Gezwitscher Krisenherde heraushören, möglichst noch bevor es zur Katastrophe kommt.

2010 startete Global Pulse unter der Leitung von Robert Kirkpatrick gemeinsam mit dem Social-Media-Analysten Crimson Hexagon, der Zugang zur Firehose besitzt, ein Forschungsprogramm in Indonesien. Global Pulse analysierte alle indonesischen Tweets, die den Reispreis thematisierten – und tatsächlich: Die Frequenz der Tweets stieg parallel zum Preis.

"Es ging uns darum zu zeigen, dass Twitter-Daten geeignet sind, wichtige Krisen-Indikatoren zu erkennen – in Echtzeit", sagt Rutherford. Dann analysierten sie die Tweets auch inhaltlich im Hinblick auf Essenspreise und Versorgungslage. Auch hier ein klares Ergebnis: "Negative Stimmungsbekundungen nahmen zu, wenn der Reispreis anstieg." Eine Vorhersage des Reispreises war jedoch nicht möglich. "Stimmungsanalyse-Tools sind für Englisch sehr verbreitet. Dies war eine der ersten Studien, die sie auf eine nicht-europäische Sprache anwandte", sagt Rutherford. "Daher muss man die Analysesoftware sehr sorgsam kalibrieren und berücksichtigen, dass sich Sarkasmus, Slang und Emoticons von Land zu Land unterscheiden."

Momentan ist die Genauigkeit der Stimmungsanalyse noch limitiert, weil "genauere Preisdaten fehlen, die wir benötigen, um die Software zu kalibrieren", sagt Rutherford. Offizielle Preisdaten seien oft nur monatlich verfügbar. Mit besseren Statistiken aber, so glaubt er, würden künftig auch Vorhersagen möglich. Aber nicht für alles: "Twitter ist öffentlich und flüchtig", sagt René Clausen Nielsen, Big-Data-Analyst bei Global Pulse. "Leute twittern nicht über ihre privaten Angelegenheiten oder ihre Lebensplanung, es geht viel um das Hier und Jetzt. Man kann Trends erkennen, sogar auf Länderebenen, aber die Konversationen gehen nicht so sehr in die Tiefe."

Es ist Vorsicht angebracht, wenn man aus Tweets Stimmungen, Interessen oder Trends ablesen will. Da gibt es zum einen die demografische Verzerrung, laut einer Studie des Pew Research Center aus dem Jahr 2012 unter 1800 US-Bürgern ist der typische Twitterer jünger als 30 und Stadtbewohner. Und wie Franck Erneweins Tweetping-Karte eindrücklich zeigt, stammt er mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht aus einem Entwicklungsland. Zum anderen ist etwa jeder zehnte aktive Twitter-Account ein Fake, entweder erstellt von Geschäftemachern, die eitlen Personen die falschen Vögel als Follower verkaufen. Oder dahinter verbergen sich Stimmungsmacher, die beispielsweise vor Wahlen Desinformation streuen und Meinungen beeinflussen wollen.

So geschehen 2010, als eine Gruppe von neun Fake-Accounts eine sogenannte "Twitter-Bombe" zündete. Innerhalb von zwei Stunden setzten sie 929 Tweets ab. Ziel der Angriffe: Die US-Politikerin Martha Coakley, die gerade im Wahlkampf um den Senatssitz in Massachusetts stand. Sie verlor das Rennen. 60000 Menschen hatten diese gesteuerten Tweets gelesen, wie eine nachträgliche Analyse ergab. Solche Vorfälle lassen auch die Zuverlässigkeit minutenkritischer Vorhersagen von Dataminr in einem fragwürdigen Licht erscheinen. Nicht auszudenken, wie anfällig hypernervöse Aktienspekulanten für solch gezielte Manipulationen sein dürften. Twitter gibt sich mittlerweile große Mühe, Fälscher und Spam aufzuspüren.

Was aber, wenn das falsche Gezwitscher von einem Stück Software stammt? Die sogenannten Social Bots – computergesteuerte Accounts, die menschliches Verhalten imitieren, sind mittlerweile so gut, dass sie nicht nur Twitters Spamfilter täuschen, sondern auch echte Menschen. Tame-Gründer Frederik Fischer kennt das Problem, er hat selbst darüber als Journalist geschrieben: "Social Bots verhalten sich die meiste Zeit unauffällig", sagt Fischer. "Sie twittern nur gelegentlich und folgen dabei verschiedenen, vorher einprogrammierten Interessen." So bauen sie sich nach und nach Reputation auf und können dann gezielt eingesetzt werden, um Meinungen zu beeinflussen. Es gilt also genau hinzuhören beim Zwitscherkonzert. (jlu)