Vom Fahren zum Gefahrenwerden. Grüne Welle für Robotaxis auch in Deutschland?

Dieser Tage debattiert der Bundestag einen Gesetzesvorschlag aus dem Verkehrsministerium, der autonomen Flotten auch bei uns den Weg ebnen könnte.

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(Bild: Suwin / Shutterstock.com)

Lesezeit: 11 Min.
Von
  • Timo Daum
  • Andreas Knie
  • Weert Canzler
Inhaltsverzeichnis

Am 3. Mai fand im Verkehrsausschuss des Bundestages eine öffentliche Anhörung zum autonomen Fahren statt. Das Bundeskabinett brachte einen Gesetzesentwurf aus dem Verkehrsministerium (BMVI) ein, der dem fahrerlosen Betrieb einen tüchtigen Schub zu geben verspricht ("Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Straßenverkehrsgesetzes und des Pflichtversicherungsgesetzes – Gesetz zum autonomen Fahren"). Am 20. Mai steht die Debatte im Plenum des Bundestages ins Haus.

Ausdrücklich ist in dem Gesetzentwurf von Situationen die Rede, in denen "kein Fahrer im spezifischen Anwendungsfall" erforderlich ist. Erstmals werden damit von Seiten der Regulierung Anwendungsszenarien mit fahrerlosen Fahrzeugen der Weg bereitet.

Vom Fahren zum Gefahrenwerden. Autonome Fahrzeuge, Personentransport und die Zukunft des Verkehrs

(Bild: jamesteohart/Shutterstock.com)

Autonomes Fahren, die Auswirkungen auf den Personentransport mit Robotaxis, people movern, autonomen Bussen und die notwendigen Techniken und Regularien beschäftigen uns in einer zehnteiligen Serie, deren einzelne Artikel bis zum 14. Mai werktags erscheinen.

Der Entwurf der neuen Verordnung zählt ausdrücklich Shuttle-Verkehre, People Mover, nachfrageorientierte Angebote in Randzeiten und die Beförderung von Personen und/oder Gütern auf der ersten oder letzten Meile auf. Die Verordnung sieht die Genehmigung unter der Voraussetzung vor, dass die Fahrzeuge in zuvor "festgelegten Betriebsbereichen" und unter "technischer Aufsicht" verkehren. Die ersten Shuttles, Robotaxis und Lieferfahrzeuge für die letzte Meile könnten ab 2022 in den Regelbetrieb gehen.

Ziel der Initiative der Bundesregierung ist es letztendlich, eine gemeinsame europäische Regulierung voranzutreiben, sie ist gedacht als "Übergangslösung, bis auf internationaler Ebene harmonisierte Vorschriften vorliegen", erklärt das BMVI. "Mit diesem Gesetz ist Deutschland weltweit führend", meint Dr. Benedikt Wolfers, der auf Regulierung des Automobilsektors spezialisiert ist. Er hält Rahmenbedingungen für das zielgerichtete Entwickeln von fahrerlosen Passagiertransportmodellen als dringend geboten.

Dass das BMVI hier vorpresche und nicht etwa auf europäische Regelungen warte, begrüßt Wolfers ausdrücklich. Sollte das Gesetz wie geplant Mitte 2021 verabschiedet werden, böte sich die Chance, angesichts des regulatorischen Vakuums weltweit Standards zu setzen. Hier sieht die Bundesregierung offenbar eine Chance, in die Lücke vorzustoßen und beim Thema Standards und Regulierung in einem wichtigen technologischen Zukunftsbereich in Führung zu gehen. In ihren eigenen Worten: "die führende Position der Bundesrepublik Deutschland in der Entwicklung automatisierter, autonomer und vernetzter Kraftfahrzeuge" absichern.

Die bislang gültige EU-Verordnung 2018/858 setze immer noch einen "Fahrzeugführer und damit die umfassende Steuerbarkeit des Fahrzeugs voraus", betont das BMVI. Derzeit sind für den Betrieb von fahrerlosen Tests komplizierte Einzel- und Sondergenehmigungen erforderlich. Unter dem Stichwort "Experimentierräume" werden zeitlich befristete Genehmigungen für einen konkreten Einsatzort in einem aufwändigen Verfahren vergeben. Das regulatorische Korsett, gebildet aus Straßenverkehrsordnung (StVO), Straßenverkehrszulassungs-Ordnung (StVZO) und Personenbeförderungsgesetz (PBefG), ist eng.

Selbstfahrende Fahrzeuge - eine Klassifikation

Die Technik steht, sagen die Entwickler autonomer Autos. Also nur noch eine Frage der Zeit, bis die Selbstfahrer unsere Straßen bevölkern? Da sind noch einige Hürden vor, dazu zählt die Klassifizierung. Eine Begriffsklärung.

Die Straßenverkehrsordnung (StVO) strukturiert in Verbindung mit dem Straßenrecht den öffentlichen Raum und schreibt die Vormachtstellung des privaten Pkw fest. In der Straßenverkehrszulassungs-Ordnung (StVZO) wird geregelt, welche Fahrzeuge unter welchen Umständen auf öffentlichen Straßen überhaupt unterwegs sein dürfen. Das Personenbeförderungsgesetz (PBefG) regelt nicht nur die Betriebspflichten des öffentlichen Verkehrs mit genauen Auflagen für Tarife und Angebote, sondern erlaubt grundsätzlich keine entgeltliche Beförderung ohne Lizenz. Im Frühjahr 2021 wurde das Gesetz novelliert und erstmals um die Option von "On-Demand"-Verkehren ergänzt. Damit dürfen neben den klassischen Linienverkehren mit Bussen und Bahnen, Taxis und Mietwagen zukünftig auch flexible Bedienformen ihren Betrieb aufnehmen.

Ergänzt durch die neue Verordnung wäre damit erstmals in einem Land in Europa der Betrieb von automatisierten Flotten als "ÖPNV 2.0" rechtlich möglich.

Auf autonomem Fahren der Stufe 4 gibt es keinen Fahrer mehr, sondern eine "technische Aufsicht" muss gewährleisten, dass Entscheidungen automatisierter Systeme jederzeit überwacht und gegebenenfalls "überstimmt" werden können. Wenn es ein Problem gibt oder eine unvorhergesehene Situation auftaucht, sollen die Fahrzeuge zwei Dinge tun: Kontakt mit der Zentrale aufnehmen und selbständig rechts ranfahren oder – wie der Gesetzgeber das ausdrückt – einen "anderen risikominimalen Zustand" erreichen.

Leitstelle im ÖPNV Hamburger Hochbahn

Der Entwurf sieht Fernwartung über ein mit Menschen besetztes Kontrollzentrum ausdrücklich vor, die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen dort müssen die Robo-Autos nicht permanent überwachen – was auch von der Personalausstattung her unrealistisch wäre. Sie müssen aber durch technische Vorrichtungen gewarnt werden, wenn sie ein Fahrzeug deaktivieren oder ein Fahrmanöver freigeben müssen und so ihre Verpflichtung zur "technischen Aufsicht" erfüllen.

Bei einer Einschränkung des Operationsgebiets auf einen "zulässigen Betriebsbereich" (Operational Design Domain) kann es sich um ein Stadtviertel, ein Betriebsgelände oder eine eigene baulich getrennte Fahrspur handeln. Die technische Umsetzung kann beispielsweise über Geofencing erfolgen.

Zusätzlich werden räumliche Einschränkungen für den automatisierten Betrieb vorgesehen. Aus dem Operationsbereich wird "besonders schwieriges Terrain" ausgeschlossen, beispielsweise unbeschrankte Bahnübergänge oder Feldwege.

Operationsgebiet am Beispiel von Waymo in Phoenix (AZ)

(Bild: Susann Massutte)

In seiner Antwort auf eine Anfrage der Autoren konkretisiert das BMVI die möglich Ausgestaltung für einen fahrerlosen Betrieb in sogenannten "Operational Design Domains" (ODD) so: "Sowohl bestimmte Strecken von A nach B als auch vorgegebene Bereiche mit unterschiedlichen Routen [sind] denkbar […], etwa innerhalb eines definierten Stadtviertels."

Die Reaktionen auf den Gesetzentwurf waren unterschiedlich und durchaus überraschend. Kritik kommt erstaunlicherweise von der Autoindustrie: Diese bemängelt gerade den Schwerpunkt auf People Mover. Der Lobbyverband der Automobilindustrie (VDA) kritisiert, der aktuelle Gesetzentwurf müsse die Möglichkeit des automatisierten Fahrens auch für Privatfahrzeuge deutlicher herausstellen.

Cruise Chevy Bolt EV in San Francisco

(Bild: Dllu, CC BY-SA 4.0)

Eine ganz andere Reaktion kommt etwa vom Bundesverband der Verbraucherzentralen: In einer Stellungnahme rät die Organisation davon ab, den privaten Besitz automatisch fahrender Autos zu erlauben. Stattdessen empfehlen sie, "den Anwendungsbereich auf gewerbliche Halter zu beschränken". Haften solle entgegen der Regelung des Verkehrsministeriums zunächst vorrangig der Hersteller, gefolgt von der technischen Aufsicht und dann dem Halter.

Von Seiten der Wissenschaft wird der Entwurf mehrheitlich begrüßt, so beispielsweise von Raúl Rojas, dem Pionier in der Entwicklung automatisiert fahrender Shuttles von der Freien Universität Berlin: "Im Großen und Ganzen finde ich das Gesetz vernünftig, da die Spielregeln für alle Beteiligten geklärt und homogenisiert werden."


(Bild: Michelle Lischke)

Timo Daum ist Dozent und Sachbuchautor. 2019 erschien sein Buch "Das Auto im digitalen Kapitalismus. Wenn Algorithmen und Daten den Verkehr bestimmen". Timo Daum schreibt regelmäßig für de Rubrik Missing Link" auf heise online.

(Bild: David Ausserhofer)

Andreas Knie ist Politikwissenschaftler und leitet zusammen mit Weert Canzler die Forschungsgruppe "Digitale Mobilität und gesellschaftliche Differenzierung". Er berät Kommunen und Organisationen zu den Themen Verkehr, Mobilität, Digitalisierung & Nachhaltigkeit.

(Bild: David Ausserhofer)

Weert Canzler leitet zusammen mit Andreas Knie die Forschungsgruppe Digitale Mobilität am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB). Seine Forschungsinteressen liegen in den Bereichen sozialwissenschaftliche Verkehrs- und Mobilitätsforschung, Energiepolitik, Innovationsforschung und Technologiepolitik.

Andreas Knie und Weert Canzler sind Preisträger des Bertha-und-Carl-Benz-Preises 2021.


Hermann Winner, Professor von der TU Darmstadt, lobt den Entwurf, insbesondere die Definition der technischen Aufsicht (Fernwartung): "Eine technische Aufsicht für autonomes Fahren ist unabdingbar, und bei dieser behält ein Mensch die Entscheidungsbefugnis für die Fahrt." Und er ergänzt: "Die im Gesetzesentwurf vorgesehenen Aufgaben sind meines Erachtens umfassend genannt."

Professor Markus Maurer von der TU Braunschweig hingegen sieht das Konzept der technischen Aufsicht "fragwürdig", er sieht darüber hinaus Risiken in den Bereichen Cybersicherheit und Datenschutz.

Der Branchenverband der Verkehrsunternehmen in Deutschland sieht den Entwurf eher positiv, betont jedoch, das Problem der technischen Aufsicht werde überbewertet. VDV-Hauptgeschäftsführer Oliver Wolff erklärt, es gebe ausreichend Erfahrung durch den Betrieb von Leitstellen im öffentlichen Verkehr, dort gebe es "bereits sehr gut ausgebildetes Fachpersonal ohne Ingenieursstudium".

Der VDV hatte bereits im Vorfeld Forderungen an den Gesetzgeber formuliert, um "das volle Potenzial des automatisierten und autonomen Fahrens auszuschöpfen", unter anderem durch:

  1. Eine Agilisierung des Genehmigungsverfahrens für autonome Fahrzeuge – von der Einzelfallgenehmigung zur Typgenehmigung,
  2. Die Abschaffung der Pflicht, einen Sicherheitsfahrer an Bord zu haben,
  3. Eine Regulierung der Fernüberwachung durch Schaffung der neuen Rechtsfigur "betrieblich-technische Aufsicht" sowie
  4. Die Ermöglichung eines "Betreuungsschlüssels" (Eins-zu-n-Betreuung), die die Wirtschaftlichkeit im Blick behält.

Inspiriert von den Richtlinien aus Kalifornien ist außerdem eine umfassende Dokumentation durch die Betreiber vorgesehen. Es ist die Rede von einem Betriebshandbuch, das die Betreiber vorlegen müssen. Dort wird die Bedienung, Wartung, Prüfung und Diagnose des Fahrzeugs dokumentiert. Zusätzlich müssen die Betreiber der Fahrzeuge umfangreiche Pflichten erfüllen, beginnend mit einer "Zuverlässigkeitsprüfung des Halters".

Baidu-Fahrzeug

(Bild: Baidu)

Autonome Funktionen müssen alle 90 Tage geprüft werden, heißt es in dem Entwurf. Zusätzlich sind die Betreiber verpflichtet, dem Kraftfahrt-Bundesamt (KBA) alle Fälle wie ein "Eingriff in das Fahrzeug von außen", "Fast-Unfall-Szenarien" oder "nicht planmäßiges Wechseln der Fahrspur" zu übermitteln. Gegenüber dem US-amerikanischen Vorbild für eine solche Dokumentations- und Datenübergabepflicht sind es nicht die Bundesländer, sondern das KBA, bei dem diese Informationen zusammenlaufen sollen – in den USA sind es nach wie vor die Bundestaaten. Auch dort gibt es gerade den Versuch einer Koordination in dieser unübersichtlichen Gemengelage.

Interessant dürfte die genaue Umsetzung der geplanten Novelle aus dem BMVI werden. Kommt die Vorlage aus dem Ministerium durch, wäre tatsächlich der Boden bereit, in Deutschland (und demnächst in der EU, so die Hoffnung), automatisierte Flotten sukzessive als neue Option im öffentlichen Verkehr einzuführen.

Eine Punkt-zu-Punkt Anbindung in einem "Hub-and-Spoke"-Format hätte damit die Chance für ein wirkliches "Next Big Thing": Möglich wäre eine hohe Bedienqualität individueller Passagierwünsche mit nur wenigen Fahrzeugen, die emissionsfrei unterwegs sind und wenig Fläche brauchen. Es bleibt aber offen, welcher Industrie– oder Dienstleistungszweig sich dieser neuen Aufgabe widmet. Denn mutmaßlich wird dies weder die Automobilindustrie wollen, noch werden die Betreiber des öffentlichen Verkehrs dazu in der Lage sein.

Geradezu sensationell mutet die Antwort des BMVI auf die Frage an, ob die Novelle Flottenbetreibern wie Waymo regulatorisch Tür und Tor öffnet: Das BMVI schreibt dazu in seiner Antwort auf eine Anfrage der Autoren: "Zu Ihrer Frage, ob es möglich wäre, einen Testbetrieb mit 'Robotaxis' von Unternehmen wie Waymo oder Cruise […] auch in Deutschland zuzulassen, teilen wir mit: Die von Ihnen angesprochenen Anwendungsfälle könnten […] mit den auf Grundlage der entworfenen Regelungen erteilten entsprechenden Genehmigungen sogar im Regelbetrieb eingesetzt werden."

Werden wir also demnächst Robotaxis amerikanischer oder sogar chinesischer Flottenbetreiber in Deutschland per App bestellen können? Im BMVI scheint man das für möglich zu halten.

Im letzten Teil unserer Serie "Vom Fahren zum Gefahrenwerden", der am Freitag, den 14. Mai erscheint, schauen wir uns genauer an, was dies nun alles für die Verkehrswende bedeutet: Können autonome Flotten überhaupt einen Beitrag leisten?

(jk)