Warnsystem Cell Broadcast: "Das muss klappen, auf allen Kanälen"

Lange glaubt die Bundesregierung, dass unsere Warnsysteme ausreichen. Fragen nach Cell Broadcast wiegelt sie ab. Jetzt soll es auf einmal ganz schnell gehen.

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(Bild: TPROduction/Shutterstock.com)

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Auf einmal ging es ganz schnell: Nach massiver Kritik am Krisenmanagement von Bund und Ländern in der jüngsten Flutkatastrophe hat Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) angekündigt, Cell Broadcast einzuführen und damit die bestehenden Warnsysteme zu ergänzen. "Die Warnung der Bevölkerung muss klappen, auf allen Kanälen", betonte der Minister. Dafür seien die Textnachrichten aufs Handy geeignet. "Wir brauchen sie."

Das ist eine ziemlich späte Erkenntnis. Bisher war die Bundesregierung offenbar der Ansicht, dass die bestehende Infrastruktur ausreichend sei. Während in Deutschland die Sirenenanlagen zurückgebaut werden, hat der Bund ein modulares Warnsystem ("MoWas") aufgebaut, mit dem das Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (BBK) und die zuständigen Stellen Warnmeldungen über verschiedene Kanäle ausspielen können.

Als Multiplikatoren sind verschiedene Medien (u.a. die Öffentlich-Rechtlichen) an das MoWas angeschlossen. Bürgerinnen und Bürger können direkt über den Pagerdienst Cityruf, öffentliche Werbetafeln und ein paar Smartphone-Apps gewarnt werden. Unter den Apps dürften die Notfall-Informations- und Nachrichten-App ("NINA") des BBK und Katwarn noch die populärsten sein. Das BBK spricht von 10 Millionen NINA-Nutzern, bei Katwarn sind es mit 3,8 Millionen aktiven Nutzern (bei 20 Millionen Downloads) weniger. Über die Apps wird also nur ein vergleichsweise kleiner Teil der Bevölkerung direkt erreicht.

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Ein Grund, warum die Bundesregierung jetzt Tempo bei Cell Broadcast macht, ist der 2018 verabschiedete Europäische Kodex für die elektronische Kommunikation. Der schreibt den EU-Mitgliedsstaaten in Artikel 110 vor, "bis zum 21. Juni 2022" sicherzustellen, "dass die Anbieter von mobilen nummerngebundenen interpersonellen Kommunikationsdiensten den Endnutzern öffentliche Warnungen übermitteln". Auf Deutsch: Die Mobilfunknetzbetreiber übermitteln die Warnungen der Behörden an ihre Kunden.

Das dafür geeignete System ist schon in den aktuellen Mobilfunkstandards – von GSM bis 5G – verankert: Cell Broadcast. In anderen europäischen Ländern und den USA ist das Warnsystem längst etabliert. Weil es als auch als SMS-CB bezeichnet wird, kommt es immer wieder zu Verwechslungen mit der SMS. Selbst Telekom-Chef Tim Höttges spricht von "Warnung per SMS" und trägt damit zur Verwirrung bei. Die Verwandtschaft ist aber marginal – beide Systeme nutzen Signalisierungskanäle der Funkzelle.

Der entscheidende Unterschied zur SMS und große Vorteil ist, dass beim Cell Broadcast nicht einzelne Rufnummern adressiert werden. Die Warnung wird von der Antenne wie ein Rundfunksignal (daher der Name) ausgestrahlt, das alle eingebuchten Handys erhalten. Für die Dauer des Alarms strahlt die Funkzelle die Warnmeldung in Dauerschleife aus und erreicht so auch Geräte, die sich neu einbuchen. Eine einmalige Aussendung per SMS oder Push-Mitteilung würde diese Geräte nicht mehr erreichen. Und: Niemand weiß, wer im Einzelnen die Meldungen bekommen hat, weil es keine Rückmeldung gibt. Datenschutzbedenken, wie sie in der Debatte auch schon vorgebracht wurden, sind unbegründet.

Cell Broadcasts können regional gezielt ausgespielt werden. Zudem ist nicht unbedingt ein Smartphone nötig, ältere Handys können Cell Broadcasts ebenso empfangen – wenn auch nicht alle. Anders als bei den Apps lassen sich die Meldungen auch nicht stummschalten oder werden etwa vom Betriebssystem unterdrückt, weil die Hintergrundaktivitäten der App eingeschränkt werden. Die über Cell Broadcast ausgespielten Warnmeldungen machen sich optisch und akustisch deutlich bemerkbar. Bei manchen Geräten muss man den Empfang solcher Meldungen aber erst aktivieren, manchmal versteckt sich das in den Einstellungen hinter Begriffen wie "Service-Nachrichten" oder "Broadcast-Kanäle".

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Auch Cell Broadcast hat seine Grenzen. Sobald an den Antennen der Strom ausfällt, senden sie nicht mehr – hier könnten allenfalls Notstromaggregate in besonders gefährdeten Regionen helfen. Doch der Sinn eines Warnsystems ist, dass es die Bevölkerung warnt, bevor eine mögliche Gefahrensituation entsteht. Insofern ist Cell Broadcast eine sinnvolle Ergänzung zur bestehenden Warninfrastruktur, darin sind sich die Experten und inzwischen auch die Politiker einig.

Knapp 152 Millionen Mobilfunkteilnehmer sind in den deutschen Netzen unterwegs. Bei rund 83 Millionen Bürgerinnen und Bürgern besteht eine statistisch recht große Chance, dass jeder in seinem persönlichen Umfeld zumindest mittelbar Zugang zu einem Mobiltelefon hat. Cell Broadcast scheint also gut geeignet, die Anforderungen des EU-Kodex zu erfüllen. Doch die Bundesregierung war bis zur Hochwasserkatastrophe dieses Sommers offenbar der Ansicht, dass die bestehenden Systeme mit den Warn-Apps den Anforderungen des EU-Kodex genügen.

Der Kodex lässt im zweiten Absatz des Artikels 110 ausdrücklich Raum für alternative Lösungen, sofern die "Effektivität" des Warnsystems "in Bezug auf Abdeckung" und "Erreichbarkeit der Endnutzer" mindestens "gleichwertig ist". Angesichts der Nutzerzahlen der Warn-Apps und der potenziellen Reichweite von Cell Broadcast darf man fragen, wie die Bundesregierung das deutsche System im Hinblick auf die EU-Vorgaben bewertet.

Das hat eine Gruppe von Bundestagsabgeordneten um den digitalpolitischen Sprecher der FDP-Fraktion, Manuel Höferlin, im vergangenen Frühjahr getan. Die Bundesregierung verweist in ihrer Antwort vom 24. April 2020 auf "Leitlinien", die das europäische Gremium der Regulierungsbehörden (Gerek) dafür noch erarbeiten werde: "Eine Bewertung der Systeme im Sinne der Fragestellung kann erst anhand der oben genannten Leitlinien erfolgen."

Bundesinnenminister Horst Seehofer drückt bei Cell Broadcast jetzt auf's Tempo.

(Bild: dpa, Hendrik Schmidt/dpa-Zentralbild/dpa)

Diese Leitlinien liegen seit Juni 2020 vor. Mehr als ein Jahr später teilt das zuständige Bundesinnenministerium (BMI) auf Nachfrage mit: "Die Gleichwertigkeitsprüfung gemäß den genannten Leitlinien ist noch nicht abgeschlossen." Während das BMI noch prüft, hat die Hochwasserkatastrophe dieses Sommers die Schwächen des Systems offengelegt. Ausgerechnet im schwer betroffenen Landkreis Ahrweiler blieb NINA stumm.

"Vorschläge zur besseren Redundanz der Systeme, wie wir sie als Freie Demokraten seit dem Frühjahr 2020 regelmäßig unterbreiten, wurden allesamt von der Bundesregierung fahrlässig unter den Tisch gekehrt", kritisiert Höferlin gegenüber heise online. "Leider fügt sich das in das Bild, das diese Bundesregierung seit geraumer Zeit abgibt. Es muss erst etwas schlimmes passieren, bevor sie ihre Trägheit überwindet und tätig wird."

Seehofer gibt jetzt den Macher. Er deutet Widerstände innerhalb der Bundesregierung an. Von der Idee seien "nicht immer alle begeistert gewesen in den letzten Monaten", sagte der Bundesinnenminister am vergangenen Montag im Bundestag. "Aber ich habe entschieden, dass wir es tun und machen, da gibt es überhaupt kein vernünftiges Argument dagegen." Wer da im Kabinett gebremst hat, sagt Seehofer nicht.

Doch kam der Widerstand offenbar aus dem Wirtschaftsministerium (BMWI). BBK-Chef Armin Schuster hatte im Frühjahr eine Machbarkeitsstudie in Auftrag gegeben – beschäftigt hat sich die Behörde auch schon vorher damit. Dabei ging es laut Regierungskreisen auch darum, das BMI und andere Ressorts – unter anderem das Haus von Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) – zu überzeugen. Über den Berliner Flurfunk ist zu hören, das BMWI habe gezögert, weil es die Netzbetreiber nicht mit weiteren Auflagen belasten wolle. Bestätigen will das BMWI das nicht.

Die Netzbetreiber signalisieren die Bereitschaft, Cell Broadcast einzuführen, wenn der Bund das will. "Aktuell stehen wir mit den Behörden im Dialog hinsichtlich einer potenziellen Implementierung und Ausgestaltung der Cell-Broadcasting-Technologie für Warnnachrichten", erklärte ein Sprecher von Telefónica Deutschland. Auch bei Telekom und Vodafone heißt es: Können wir machen.

(Bild: Gerek)

So richtig aus der Deckung wagt sich aber niemand, weil zu viele Fragen noch offen sind. "Neben zahlreichen technologischen Faktoren sind hier vor allem auch regulatorische Fragen zu klären", sagt der Telefónica-Sprecher. Es wird auch um die Kosten gehen, die bisher niemand beziffern will. In Berlin kursieren zwei Zahlen: 20 Millionen Euro für den Aufbau und 10 Millionen jährliche Betriebskosten. Selbst wenn das – wie einige Insider vermuten – hoch geschätzt ist, dürfte es den Etat des BMI nicht sprengen.

Eine Hausnummer wollen die Netzbetreiber erst nennen, wenn klar ist, was der Bund für ein System plant. "Kosten und Dauer der Implementierung hängen von den konkreten Anforderungen ab", sagte ein Vodafone-Sprecher. Die muss der Bund jetzt definieren. Dann müssen die gesetzlichen Voraussetzungen geschaffen werden, da kommen das BMWI und das Telekommunikationsgesetz (TKG) ins Spiel. "Auch die Bundesnetzagentur ist in den aktuell laufenden Prozess bereits eingebunden", erklärte eine Sprecherin des BMWI.

Der technische Aufwand für die Netzbetreiber ist vergleichsweise überschaubar, aber auch nicht ohne. Im Einzelnen hängt das auch von dem jeweiligen Netz ab. Doch in aller Regel muss an den Antennenstandorten nicht groß aufgerüstet werden. Cell Broadcast ist in den Funkzellen bereits implementiert und muss gegebenenfalls nur aktiviert werden. Allerdings sind im Kernnetz einige Arbeiten nötig, so muss etwa ein System eingerichtet werden, das die regionale Zuordnung der Antennenstandorte übernimmt. Schließlich braucht man ein Cell Broadcast Center (CBC), über das die Verteilung der Warnmeldungen oder Entwarnungen an die richtigen Antennen läuft. Und das alles wird mehrfach redundant angebunden und abgesichert.

Die Netzbetreiber betonen, dass sie nur die Infrastruktur stellen. Nur die zuständigen Behörden dürfen Warnmeldungen aussenden. Da sind zunächst das BBK und die Katastrophenschutzbehörden der Bundesländer, aber auch andere Stellen. Für deren Systeme müssen Schnittstellen eingerichtet werden, alleine das ist angesichts der heterogenen Systemlandschaft bei den Behörden schon eine nicht triviale Aufgabe. Für die Einführung von Cell Broadcast werde die Bundesnetzagentur "zeitnah die notwendigen technischen Spezifikationen erarbeiten", heißt es dazu aus dem BMWI.

Die offenen Fragen sollen "innerhalb der nächsten vier bis sechs Wochen" geklärt werden, sagt eine BMI-Sprecherin. In der vergangenen Woche haben sich die Beteiligten beim BBK an einen Tisch gesetzt und das weitere Vorgehen abgestimmt. Brancheninsider halten es für realistisch, dass das System innerhalb eines Jahres steht. Voraussetzung ist, dass die Bundesregierung noch in dieser Legislaturperiode den rechtlichen Rahmen schafft.

(vbr)