Warnsystem Cell Broadcast: "Das muss klappen, auf allen Kanälen"

Lange glaubt die Bundesregierung, dass unsere Warnsysteme ausreichen. Fragen nach Cell Broadcast wiegelt sie ab. Jetzt soll es auf einmal ganz schnell gehen.

In Pocket speichern vorlesen Druckansicht 407 Kommentare lesen

(Bild: TPROduction/Shutterstock.com)

Lesezeit: 10 Min.
Inhaltsverzeichnis

Auf einmal ging es ganz schnell: Nach massiver Kritik am Krisenmanagement von Bund und Ländern in der jüngsten Flutkatastrophe hat Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) angekündigt, Cell Broadcast einzuführen und damit die bestehenden Warnsysteme zu ergänzen. "Die Warnung der Bevölkerung muss klappen, auf allen Kanälen", betonte der Minister. Dafür seien die Textnachrichten aufs Handy geeignet. "Wir brauchen sie."

Das ist eine ziemlich späte Erkenntnis. Bisher war die Bundesregierung offenbar der Ansicht, dass die bestehende Infrastruktur ausreichend sei. Während in Deutschland die Sirenenanlagen zurückgebaut werden, hat der Bund ein modulares Warnsystem ("MoWas") aufgebaut, mit dem das Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (BBK) und die zuständigen Stellen Warnmeldungen über verschiedene Kanäle ausspielen können.

Als Multiplikatoren sind verschiedene Medien (u.a. die Öffentlich-Rechtlichen) an das MoWas angeschlossen. Bürgerinnen und Bürger können direkt über den Pagerdienst Cityruf, öffentliche Werbetafeln und ein paar Smartphone-Apps gewarnt werden. Unter den Apps dürften die Notfall-Informations- und Nachrichten-App ("NINA") des BBK und Katwarn noch die populärsten sein. Das BBK spricht von 10 Millionen NINA-Nutzern, bei Katwarn sind es mit 3,8 Millionen aktiven Nutzern (bei 20 Millionen Downloads) weniger. Über die Apps wird also nur ein vergleichsweise kleiner Teil der Bevölkerung direkt erreicht.

Empfohlener redaktioneller Inhalt

Mit Ihrer Zustimmmung wird hier ein externes Video (Kaltura Inc.) geladen.

Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen (Kaltura Inc.) übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung.

Ein Grund, warum die Bundesregierung jetzt Tempo bei Cell Broadcast macht, ist der 2018 verabschiedete Europäische Kodex für die elektronische Kommunikation. Der schreibt den EU-Mitgliedsstaaten in Artikel 110 vor, "bis zum 21. Juni 2022" sicherzustellen, "dass die Anbieter von mobilen nummerngebundenen interpersonellen Kommunikationsdiensten den Endnutzern öffentliche Warnungen übermitteln". Auf Deutsch: Die Mobilfunknetzbetreiber übermitteln die Warnungen der Behörden an ihre Kunden.

Das dafür geeignete System ist schon in den aktuellen Mobilfunkstandards – von GSM bis 5G – verankert: Cell Broadcast. In anderen europäischen Ländern und den USA ist das Warnsystem längst etabliert. Weil es als auch als SMS-CB bezeichnet wird, kommt es immer wieder zu Verwechslungen mit der SMS. Selbst Telekom-Chef Tim Höttges spricht von "Warnung per SMS" und trägt damit zur Verwirrung bei. Die Verwandtschaft ist aber marginal – beide Systeme nutzen Signalisierungskanäle der Funkzelle.

Der entscheidende Unterschied zur SMS und große Vorteil ist, dass beim Cell Broadcast nicht einzelne Rufnummern adressiert werden. Die Warnung wird von der Antenne wie ein Rundfunksignal (daher der Name) ausgestrahlt, das alle eingebuchten Handys erhalten. Für die Dauer des Alarms strahlt die Funkzelle die Warnmeldung in Dauerschleife aus und erreicht so auch Geräte, die sich neu einbuchen. Eine einmalige Aussendung per SMS oder Push-Mitteilung würde diese Geräte nicht mehr erreichen. Und: Niemand weiß, wer im Einzelnen die Meldungen bekommen hat, weil es keine Rückmeldung gibt. Datenschutzbedenken, wie sie in der Debatte auch schon vorgebracht wurden, sind unbegründet.

Cell Broadcasts können regional gezielt ausgespielt werden. Zudem ist nicht unbedingt ein Smartphone nötig, ältere Handys können Cell Broadcasts ebenso empfangen – wenn auch nicht alle. Anders als bei den Apps lassen sich die Meldungen auch nicht stummschalten oder werden etwa vom Betriebssystem unterdrückt, weil die Hintergrundaktivitäten der App eingeschränkt werden. Die über Cell Broadcast ausgespielten Warnmeldungen machen sich optisch und akustisch deutlich bemerkbar. Bei manchen Geräten muss man den Empfang solcher Meldungen aber erst aktivieren, manchmal versteckt sich das in den Einstellungen hinter Begriffen wie "Service-Nachrichten" oder "Broadcast-Kanäle".

Empfohlener redaktioneller Inhalt

Mit Ihrer Zustimmmung wird hier ein externes YouTube-Video (Google Ireland Limited) geladen.

Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen (Google Ireland Limited) übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung.

Auch Cell Broadcast hat seine Grenzen. Sobald an den Antennen der Strom ausfällt, senden sie nicht mehr – hier könnten allenfalls Notstromaggregate in besonders gefährdeten Regionen helfen. Doch der Sinn eines Warnsystems ist, dass es die Bevölkerung warnt, bevor eine mögliche Gefahrensituation entsteht. Insofern ist Cell Broadcast eine sinnvolle Ergänzung zur bestehenden Warninfrastruktur, darin sind sich die Experten und inzwischen auch die Politiker einig.

Knapp 152 Millionen Mobilfunkteilnehmer sind in den deutschen Netzen unterwegs. Bei rund 83 Millionen Bürgerinnen und Bürgern besteht eine statistisch recht große Chance, dass jeder in seinem persönlichen Umfeld zumindest mittelbar Zugang zu einem Mobiltelefon hat. Cell Broadcast scheint also gut geeignet, die Anforderungen des EU-Kodex zu erfüllen. Doch die Bundesregierung war bis zur Hochwasserkatastrophe dieses Sommers offenbar der Ansicht, dass die bestehenden Systeme mit den Warn-Apps den Anforderungen des EU-Kodex genügen.

Der Kodex lässt im zweiten Absatz des Artikels 110 ausdrücklich Raum für alternative Lösungen, sofern die "Effektivität" des Warnsystems "in Bezug auf Abdeckung" und "Erreichbarkeit der Endnutzer" mindestens "gleichwertig ist". Angesichts der Nutzerzahlen der Warn-Apps und der potenziellen Reichweite von Cell Broadcast darf man fragen, wie die Bundesregierung das deutsche System im Hinblick auf die EU-Vorgaben bewertet.

Das hat eine Gruppe von Bundestagsabgeordneten um den digitalpolitischen Sprecher der FDP-Fraktion, Manuel Höferlin, im vergangenen Frühjahr getan. Die Bundesregierung verweist in ihrer Antwort vom 24. April 2020 auf "Leitlinien", die das europäische Gremium der Regulierungsbehörden (Gerek) dafür noch erarbeiten werde: "Eine Bewertung der Systeme im Sinne der Fragestellung kann erst anhand der oben genannten Leitlinien erfolgen."