Wie China beim autonomen Fahren zur Nummer eins werden will

Hersteller von Elektrofahrzeugen und KI-Unternehmen bringen "Full Self Driving"-Systeme nach China. Doch wann kommen sie beim Verbraucher an?

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Auto China

Autos in Peking.

(Bild: dpa, Friso Gentsch/Volkswagen)

Lesezeit: 15 Min.
Von
  • Zeyi Yang
Inhaltsverzeichnis

Gegen Ende eines fast 15-minütigen Videos verlässt William Sundin, Gründer des ChinaDriven-Kanals auf YouTube, die Autobahn und fährt auf die Straßen der südchinesischen Stadt Guangzhou. Genauer gesagt: Er lässt fahren. Denn während er auf dem Fahrersitz sitzt, lenkt das Auto nun selbst, hält an oder ändert die Geschwindigkeit – und navigiert erfolgreich durch die belebten Straßen der Stadt.

"Das ist eine Navigation-on-Autopilot-Funktion (NOA) für die städtische Umgebung", erklärt er Sundin den Zuschauern, die ihn bei einer Testfahrt mit dem XPeng G6, einem chinesischen Elektrofahrzeugmodell, betrachten. "Das ist natürlich viel schwieriger als einfaches NOA auf der Autobahn, mit vielen verschiedenen Kreuzungen und Ampeln, Mopeds und Fußgängern und Autos, die sich auf den Fahrspuren kreuzen – es gibt viel mehr, womit das System zurechtkommen muss."

Sundins abschließende Einschätzung: Die NOA-Technik ist nicht perfekt, "aber sie ist ziemlich beeindruckend" – und ein Vorgeschmack auf weitere Fortschritte, die noch kommen werden. Über eine einfache Produktbesprechung hinaus bietet Sundins Video seinen Betrachtern auch einen Einblick in den Technikwettlauf, der sich unter den chinesischen Autoherstellern im vergangenen Jahr beschleunigt hat. Egal, ob es sich um Hersteller von Elektrofahrzeugen oder um Start-ups für selbstfahrende Technologien handelt – sie alle scheinen vor allem auf ein Ziel fixiert zu sein: ihre eigenen autonomen Navigationsdienste so schnell wie möglich in immer mehr chinesischen Städten einzuführen.

Allein in den vergangenen sechs Monaten haben fast ein Dutzend chinesischer Autohersteller ehrgeizige Pläne angekündigt, ihre NOA-Dienste in mehreren Städten des Landes einzuführen. Während einige derzeit noch nicht für die Öffentlichkeit zugänglich sind, sagt Sundin gegenüber MIT Technology Review, dass der große Wendepunkt im nächsten Jahr erreicht sein könnte.

Ähnlich wie die Full-Self-Driving-Funktionen (FSD), die Tesla in Nordamerika in einer Beta-Phase testet, sind NOA-Systeme eine leistungsfähigere Version von Fahrerassistenzsystemen, die im komplizierten Stadtverkehr autonom anhalten, lenken und die Spur wechseln können. Dies unterscheidet sich vom vollautonomen Fahren, da der menschliche Fahrer immer noch regelmäßig das Lenkrad berühren und bereit sein muss, die Kontrolle zu übernehmen. Autofirmen bieten NOA als Premium-Software-Upgrade für Besitzer an, die bereit sind, für diese Erfahrung zu zahlen, und die sich die Autos mit den erforderlichen Sensoren leisten können.

Vor einem Jahr waren die NOA-Systeme in China noch auf Autobahnen beschränkt und konnten nicht in städtischen Gebieten eingesetzt werden, obwohl die meisten Chinesen in dicht besiedelten Regionen leben. Wie Sundin anmerkt, ist es für NOA-Systeme eine unglaubliche Herausforderung, in solchen Umgebungen gut zu funktionieren, da es kaum eine Trennung zwischen Fußgängern und Fahrzeugen gibt und jede Stadt eine eigene Gestalt hat. Ein System, das die Kniffe des Fahrens in Peking gelernt hat, kann beispielsweise in Shanghai nicht gut funktionieren.

Deswegen versuchen chinesische Unternehmen, immer mehr stadtspezifische Navigationssysteme zu entwickeln, bevor sie allmählich in den Rest des Landes expandieren. Unternehmen wie XPeng, Li Auto und Huawei haben aggressive Pläne angekündigt, diese NOA-Dienste in naher Zukunft in Dutzenden oder sogar Hunderten von weiteren Städten einzuführen – und treiben sich damit gegenseitig zu immer schnelleren Schritten. Einige haben sogar beschlossen, NOA ohne zusätzliche Kosten für den Besitzer freizugeben.

"Sie bringen es auf den Markt, um das Bewusstsein zu wecken, um Glaubwürdigkeit und Vertrauen bei chinesischen Verbrauchern aufzubauen, aber auch aus Angst, etwas zu verpassen", sagt Tu Le, Geschäftsführer von Sino Auto Insights, einer auf das Transportwesen spezialisierten Unternehmensberatung. Sobald ein paar Unternehmen ihre City-Navigationsfunktionen angekündigt haben, so Tu Le weiter, "müssen alle anderen nachziehen, sonst sind ihre Produkte auf dem chinesischen Markt im Nachteil".

Gleichzeitig hat dieser harte Wettbewerb aber auch unbeabsichtigte Nebenwirkungen – er verwirrt die Kundschaft und gefährdet möglicherweise andere Fahrer. Und trotz der allgegenwärtigen Marketingkampagnen der Autohersteller bleiben viele der Funktionen für diejenigen, die nicht in den Pilotstädten leben oder die High-End-Modelle besitzen, schwer zugänglich. Die Branche für autonomes Fahren unterteilt ihre technologischen Fortschritte in sechs Stufen: von Stufe 0, bei der der Mensch den gesamten Fahrvorgang kontrolliert, bis zu Stufe 5, bei der keinerlei menschliches Eingreifen mehr erforderlich ist.

Heute sind eigentlich nur zwei Stufen im Einsatz. Die eine steckt in Robotertaxis, angeführt von Unternehmen wie Cruise, Waymo und dem chinesischen Internet-Riesen Baidu, die den Fahrgästen die Technologie der Stufe 4 bieten, aber oft auf bestimmte geografische Grenzen beschränkt sind. Eine weitere ist das NOA-System, wie FSD von Tesla oder das XNGP von XPeng. Diese haben zwar nur Stufe 2 – d. h. die meisten Aufgaben müssen immer noch von menschlichen Fahrern überwacht werden –, aber die Technologie ist viel leichter zugänglich und wird inzwischen in Fahrzeugen auf der ganzen Welt eingebaut.

Es ist leicht, sich vorzustellen, dass kommerziell erhältliche Fahrzeuge näher an der vollständigen Autonomie zu sein scheinen, als sie es tatsächlich sind. So gaben chinesische Autohersteller ihren NOA-Produkten alle möglichen irreführenden oder bedeutungslosen Namen:

- Li Auto folgt der Tradition von Tesla und nennt die Technik NOA
- NIO nennt sie NOP (Navigate on Pilot) und NAD (NIO Assisted and Intelligent Driving)
- XPeng nennt sie NGP (Navigation Guided Pilot) und neuerdings XNGP – der "letzte Schritt vor der Realisierung des vollständig autonomen Fahrens", so das Unternehmen
- Huawei nennt sie NCA (Navigation Cruise Assist)
- Haomo.AI, ein KI-Startup, nennt sein System NOH (Navigation on HPilot)
- Baidu nennt seine Idee "Apollo City Driving Max"

Die unterschiedlichen Namen sind nicht nur schwer zu merken, sondern deuten auch auf einen Mangel an einheitlichen Standards hin. Es gibt keine Garantie dafür, dass diese Unternehmen mit ihren ähnlich klingenden Produkten das Gleiche versprechen. Einige decken vielleicht nur die großen Umgehungsstraßen einer Stadt ab, während andere auch kleinere Straßen erfassen. Einige verwenden LiDAR (laserbasierte Sensor), um die Genauigkeit zu verbessern, während andere nur Kameras einsetzen. Und es gibt keinen Standard dafür, wie sicher die Technologie sein muss, bevor sie an Verbraucher verkauft wird.

"Viele dieser Konzepte werden von chinesischen Unternehmen selbst erfunden, ohne dass es dafür eine Referenz oder einen Hintergrund gibt", sagt Zhang Xiang, Analyst der Autoindustrie und Gastprofessor am Huanghe Science and Technology College. "Was sind die Standards für die Erlangung von NOA? Welche Qualifikationen gibt es? Niemand erklärt das."

Im vergangenen September wetteiferten zwei chinesische Unternehmen darum, als erste ein städtisches NOA-System in China einzuführen: Am 17. September gewann XPeng, das EV-Unternehmen, das sein Markenimage seit langem auf den Einsatz von KI stützt, das Rennen, indem es sein Produkt in Guangzhou verfügbar machte. Eine Woche später führte Huawei – ein Technologiegigant, der das intelligente Fahren in den vergangenen Jahren zu einem Schwerpunkt gemacht hat – das Produkt in Shenzhen ein.

Doch so richtig in Schwung kam der Fortschritt erst 2023. Im Januar kündigte Haomo.AI, ein vier Jahre altes chinesisches Startup-Unternehmen für autonomes Fahren, an, dass es seinen städtischen NOA-Dienst bis Ende 2024 in 100 chinesischen Städten zur Verfügung stellen werde. Am 15. April erhöhte Huawei sein Ziel auf 45 Städte bis Ende 2023; drei Tage später erhöhte Li Auto, ein weiteres chinesisches EV-Unternehmen, sein Ziel auf 100 Städte bis Ende 2023. XPeng, NIO und weitere Unternehmen folgten bald darauf mit ähnlichen Ankündigungen, die eine Expansion auf bis zu 200 Städte vorsahen.

Um auf dem Markt wettbewerbsfähig zu bleiben, entwickeln einheimische EV-Unternehmen die Level-2-Navigations-Technologie selbst und verkaufen städtische NOA-Dienste als Upgrade für ihre Fahrzeuge. Wie andere Premiumfunktionen erfordern sie oft zusätzliche Abozahlungen pro Monat oder Jahr. Gleichzeitig konkurrieren die KI-Unternehmen auch mit konventionelleren Autoherstellern, und während sie auf die selbstfahrende Technologie der Stufen 4 oder 5 hinarbeiten, brauchen sie noch Brückeneinnahmen. NOA-Dienste können schnelles Geld, einfachen Absatz und vor allem Zugang zu mehr Daten zum Trainieren von KI-Modellen bedeuten.

"Wenn Sie nur ein Unternehmen für autonome Fahrzeuge sind, sind signifikante Einnahmen erst in 10 Jahren zu erwarten", sagt Tu. "Wenn Sie unter dem Druck von Investoren stehen, schon heute Umsätze zu erzielen, was tun Sie dann? Sie schaffen zusätzliche Einnahmen durch den Verkauf Ihrer Hard- und Software oder durch die Lizenzierung."

Tus Analyse deckt sich mit dem, was Cai Na, der Vizepräsident von Haomo.AI, gegenüber MIT Technology Review sagte: "Wir denken, dass der Weg über [Level 2] realistischer ist. Die L2-Technologie hat bereits den Durchbruch von einer Technologie zu einem Produkt geschafft, und viele Unternehmen haben sie von einem reinen Forschungsvorhaben zu einem kommerziell nutzbaren Produkt gemacht."

Hinter den großen Versprechungen verbirgt sich die Frage, warum diese städtischen Navigationsdienste heute noch nicht für einen Großteil der Öffentlichkeit zugänglich sind. Laut einer Marktstudie von Western Securities, einem chinesischen Maklerunternehmen, werden im Jahr 2023 etwa 360.000 in China produzierte Autos mit City-NOA-Funktionen ausgestattet sein. Diese Modelle sind in der Regel teurer als normale Fahrzeuge, da sie Hardware-Upgrades wie LiDAR oder andere Sensoren benötigen. Einige Unternehmen berechnen den Nutzern zusätzliche Gebühren für den Zugriff auf die Softwarefunktionen, ähnlich wie Tesla es tut. Aber es reicht nicht aus, ein Auto zu haben, das nur in der Lage ist, NOA für die Stadt zu nutzen. Man muss auch in einer der wenigen Städte der "ersten Liga" leben. Es sind Peking, Shanghai, Shenzhen oder Guangzhou. Daher bleibt City-NOA in China wohl derzeit eine Nischentechnologie (obwohl nur wenige Unternehmen Daten über die Verbreitung ihrer Technologie veröffentlicht haben.)

Neben der XPeng-Testfahrt in Guangzhou hat Sundin von ChinaDriven zum Beispiel auch ein Fahrzeug von Li Auto mit ähnlichen Funktionen in Peking getestet. Er kann es jedoch nicht für seinen täglichen Arbeitsweg nutzen, da er in Changsha lebt, einer Stadt im zweiten Glied, in der noch kein Autohersteller NOA-Funktionen für die Stadt aktiviert hat. Er stellt fest, dass selbst in Städten, in denen sie angeboten wird, die Navigation oft durch schlechte Straßenmarkierungen, Neubauten, Fußgänger oder Zweiräder behindert wird. "In China ist eine Menge los. Die Stadt wird Jahr für Jahr umgestaltet, die Straßen werden neu markiert", sagt er. "Fahren Mopeds auf der Straße? Fahren sie auf den Bürgersteigen?"

Haomos Cai bewertet das ähnlich: "Die reale städtische Umwelt ist viel komplizierter als das, was man sich vorstellt. Stadtplanung, die Politik und die Fahrweise sind in jeder Stadt anders", sagte sie. "Zum Beispiel haben die Ampeln, die wir normalerweise sehen, drei Zeichen – rot, gelb und grün. Aber in einigen Städten gibt es Ampeln mit fünf Möglichkeiten, chinesische Zeichen oder dreieckige Ampeln".

Aber selbst in diesen Pilotstädten bieten die NOA-Produkte nur begrenzte Funktionalitäten. Lei Xing, der ehemalige Chefredakteur von China Auto Review, fuhr eine Woche lang ein neues XPeng-Modell in Peking, um dessen Autopilot-Funktionen zu testen. XPeng war das erste chinesische Unternehmen, das autonome Navigation in Chinas Hauptstadt eingeführt hat. Bislang sind seine autonomen Funktionen auf die großen Ringstraßen und Schnellstraßen Pekings beschränkt. Eines Nachts, als wenig Verkehr herrschte, fuhr er von einem Bahnhof am Stadtrand bis zur innersten Ringautobahn von Peking, und die XPeng-Technik übernahm das Fahren für die gesamte Strecke. Xing war zwar beeindruckt, aber seine Erwartungen wurden trotzdem nicht ganz erfüllt, vor allem, als der Verkehr zunahm.

Er glaubt, dass die Autohersteller die möglichen NOA-Fähigkeiten zu hoch ansetzen: "Ich glaube, die Realität ist viel schwieriger. Die Ziele sind ziemlich aggressiv, und ich bezweifle, dass sie erreicht werden können". XPeng, Li Auto und Baidu antworteten nicht auf schriftliche Fragen, die von MIT Technology Review gesendet wurden. Ein Huawei-Sprecher antwortete in einer E-Mail, dass das Advanced Driving System von Huawei "den Produktionsstart erreicht" habe und sich auf drei Hauptszenarien konzentriert: "Fahren auf der Autobahn, Fahren in der Stadt und das Parken".

Selbst diejenigen, die von den NOA-Systemen in Städten beeindruckt sind, sagen, dass es immer noch eine stressige Erfahrung ist. "Wenn viel Verkehr ist, versucht das System gelegentlich, die Spur zu wechseln und jemanden zu schneiden ... manchmal war es zu aggressiv und es fühlte sich an, als könnte ich auf das Auto hinter mir auffahren", sagt Xing. Sundin fühlte sich ebenfalls gestresst, als er die Funktionen des XPeng in Guangzhou testete. "Um ehrlich zu sein, wenn man als verantwortungsbewusster Fahrer mit diesen Systemen arbeitet, steht man viel mehr unter Druck", sagt er, vor allem weil man nicht vorhersehen konnte, wie das Auto auf Verkehrssituationen reagieren würde, war das ein Problem. "Es kann einen müde machen, wenn man genau überwachen muss, was das System tut", sagt er.

Einige der Fahrzeuge bieten eigene Kontrollen an, um sicherzustellen, dass der Fahrer aufmerksam ist. Xing sagt, dass das XPeng-System ihn manchmal auffordert, das Lenkrad ein wenig zu steuern, um zu beweisen, dass er das Lenkrad noch in der Hand hat. Wenn der Fahrer dies nicht tut, warnt das Auto ihn alle paar Sekunden. Er sagt, er habe auch eine Fahrerschulung absolvieren müssen, in der er wiederholt daran erinnert wurde, dass der Fahrer konzentriert und bereit sein muss, das Steuer zu übernehmen. Sundin fand jedoch heraus, dass bei seinen Probefahrten ein solcher Erziehungsmechanismus fehlte. Der Fahrer wurde nur aufgefordert, mehrere Multiple-Choice-Fragen zu beantworten und er warnt, dass es kaum ein Hindernis darstellt, wenn man sich einfach durch alle Antworten klickt, um es schnell zu erledigen.

Die Tatsache, dass nicht jeder Fahrer die Technologie verantwortungsbewusst einsetzt, bedeutet auch, dass andere Verkehrsteilnehmer stärker gefährdet sein werden. Im Gegensatz zu Robotertaxis, die in der Regel von außen deutlich als solche gekennzeichnet sind oder auffällige Sensoren und Kameras tragen, sieht ein Auto mit experimentellen NOA-Systemen genauso aus wie jedes andere Auto auf der Straße.

"Ich möchte nicht Teil eines solchen Pilotversuchs sein, wenn ich ein normales Fahrzeug auf der Straße fahre", sagt Tu, der gemischte Gefühle über die derzeitige Verwendung der Systeme hat. Seiner Meinung nach ist die Branche nur ein oder zwei schwere Unfälle davon entfernt, dass sich die Öffentlichkeit und die Aufsichtsbehörden gegen sie wenden. "Wie kann man den Spagat schaffen, einerseits realistisch und sicher zu arbeiten, andererseits aber auch ein Verkaufsargument für die Autos haben?", fragt Sundin. "Es ist eine schwierige Situation, und ich weiß nicht, wie die Lösung aussieht."

(jle)