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Wie Facebook mit Ray-Ban-Brillen auf unsere Gesichter kommen will

S.A. Applin

Ja, das da oben links ist eine Kamera.

(Bild: Facebook)

Das soziale Netzwerk bastelt am "Metaverse" – und nutzt dazu eine Sonnenbrille mit integrierter Kamera.

Vorletzte Woche hat Facebook seine neue Computerbrille vorgestellt. Das 300 US-Dollar teure Gerät namens "Ray-Ban Stories" erlaubt es den Trägern, Bilder und kurze Videos aufzunehmen und teilen, Musik zu hören sowie Anrufe entgegenzunehmen. Es ist stark davon auszugehen, dass die Leute, die diese Brillen kaufen, damit bald in öffentlichen und privaten Räumen unterwegs sein werden, ihr Umfeld fotografieren oder filmen und dann die neue Facebook-App "View" verwenden werden, um all die tollen Inhalte zu sortieren und hochzuladen.

Mein Problem mit diesen Brillen ist nicht nur, was sie aktuell darstellen – sondern vor allem, was sie für die künftige Entwicklung bedeuten könnten und wie das unsere soziale Landschaft verändern wird. Wie werden wir uns fühlen, wenn wir uns in der Öffentlichkeit bewegen und wissen, dass die Menschen um uns herum in jedem Moment eine quasi geheime – weil kaum sichtbare – Überwachungstechnologie tragen und einsetzen könnten? Menschen haben andere in der Öffentlichkeit seit Jahrzehnten aufgezeichnet, aber es ist für die Durchschnittsperson immer schwieriger, dies zu erkennen. Die neue Brille von Facebook [1] wird es noch schwieriger machen, da sie aussieht wie nahezu jede andere Ray-Ban-Sonnenbrille und auch ihr Markenlogo trägt.

Das vertraute Erbe dieser Marke könnte dazu führen, dass die Facebook-Brille viel mehr Menschen anspricht als beispielsweise die seit längerem erhältlichen Snap Spectacles [2] und andere Kamerabrillen. (Facebook hat außerdem etwa 2 Milliarden mehr Nutzer als Snapchat.) Außerdem kann Facebook die Vorteile der globalen Lieferkette und der Einzelhandelsinfrastruktur des Brillengiganten Luxottica, der Muttergesellschaft von Ray-Ban, nutzen.

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Die Facebook-Brille könnte zudem in pandemischen Zeiten besonders beliebt sein, da sie eine Möglichkeit bietet, Bilder und Töne aufzunehmen, ohne ein Telefon oder eine andere Oberfläche berühren zu müssen. Sie könnte auch ein Hit für Eltern werden, die auf ihre Kinder aufpassen müssen, aber trotzdem spontane Momente festhalten wollen. Auf den ersten Blick scheint sich eine Aufnahme mit der Facebook-Brille nicht wesentlich von einer Aufnahme eines Fotos oder Videos mit einem Smartphone zu unterscheiden. Die Art und Weise, wie die Brille die Augen des Trägers bedeckt und Fotos und Videos aus dem Blickwinkel dieser Person erstellt, verändert jedoch die Bedeutung der digitalen Bildaufzeichnung innerhalb von sozialen Gruppen.

Mit seinem Produkt beansprucht Facebook das Gesicht der Menschen zudem als neuen Ort für die eigene Technik. Die Brille wird zu einem ständigen Sucher, der die Perspektive des Trägers in den Vordergrund stellt – und nicht mehr die Gruppenerfahrung. Das kann dazu führen, dass sich die Träger mehr dazu hingezogen fühlen, Szenen aus dem eigenen Blickwinkel festzuhalten, als tatsächlich daran teilzunehmen. Da in einer Gruppe möglicherweise mehr als eine Person gleichzeitig die Brille trägt, könnte sich dieser Effekt noch verstärken und unseren sozialen Zusammenhalt weiter zersplittern.

Anfang dieses Jahres habe ich zusammen mit Catherine Flick von der De Montfort University im Vereinigten Königreich ein Ethikpapier [4] verfasst, das im Mai 2021 im "Journal of Responsible Technology" veröffentlicht wurde. Wir argumentierten, dass der ungezügelte Einsatz von "Smart Glasses" ernste, unvorhergesehene Fragen über die Zukunft der öffentlichen sozialen Interaktion aufwirft.

Die Ray-Ban Stories sind ein Schritt hin zu Mark Zuckerbergs langfristiger Vision für Facebook, die darin besteht, ein "Metaverse" zu verwirklichen und daran teilzuhaben. Der Risikokapitalgeber Matthew Ball beschreibt das Metaversum als einen Raum "beispielloser Interoperabilität" mit nahtlos integriertem Verkauf. Zuckerberg erklärt es als einen gemeinsamen Raum, der Unternehmen und digitale Erfahrungen vereint, einschließlich realer, virtueller und erweiterter Welten.

Zuckerberg bezeichnet Ray-Ban Stories als "einen Meilenstein auf dem Weg" zu einer immersiven Augmented-Reality-Brille (AR). Im Jahr 2020 kündigte Facebook das Projekt Aria an, bei dem AR-fähige Brillen eingesetzt werden, um das Terrain des öffentlichen plus einiger privater Räume zu kartieren. Mit dieser Kartierung sollen Geolokalisierungsinformationen und auch geistiges Eigentum aufgebaut werden, um den Infobedarf künftiger AR-Brillenträger zu decken – und wahrscheinlich Facebooks Beitrag zum Metaverse voranzutreiben. Wie Zuckerberg in einem Video zur Vorstellung von Ray-Ban Stories erwähnte, plant er, Mobiltelefone durch Facebooks intelligente Brillen zu ersetzen.

Brillen bieten andere soziale Anhaltspunkte als Smartphones. Wir können erkennen, wer ein Telefon benutzt, weil wir das Telefon in der Hand sehen können. Herauszufinden, wer die Facebook-Brille trägt, wird eine größere Herausforderung werden. Das Google-Glass-Experiment [5] ist zum Teil daran gescheitert, dass die Brille anders aussah als normale Brillen und wir die Träger leicht identifizieren (und meiden) konnten. Die Ray-Ban Stories sehen jedoch sehr ähnlich aus wie normale Ray-Bans.

Bei Ray-Ban Stories können wir nicht immer wissen, wer aufnimmt, wann und wo er das tut oder was mit den gesammelten Daten geschieht. Ein kleines Licht zeigt zwar an, dass die Brille aufnimmt, aber das ist aus der Ferne kaum zu sehen. Wenn der Träger der Brille ein Foto aufnimmt, ertönt ein leises "Auslösegeräusch", das aber für andere kaum zu hören ist. Selbst wenn sie es hören, könnte die Ungewissheit, was jemand mit der Aufnahme vorhat, jeden, der auf seine Privatsphäre bedacht ist, beunruhigen.

Die View-App von Facebook "verspricht, ein sicherer Raum zu sein", heißt es in einer Rezension, aber das Hochladen von Daten über die View-App in andere Facebook-Apps macht es unklar, welche Datenschutzrichtlinien gelten und wie die von der Brille aufgezeichneten Inhalte letztendlich verwendet werden könnten. Personen, die die Ray-Ban Stories verwenden, könnten auch eines zusätzlichen Trackings ausgesetzt sein. In der View-App heißt es, dass die Sprachbefehle des Trägers aufgezeichnet und mit Facebook geteilt werden könnten, um "das Erlebnis [des Trägers] zu verbessern und zu personalisieren". Um dies zu verhindern, muss der Nutzer dies explizit ablehnen.

Wenn einige (aber nicht alle) der Menschen, mit denen wir interagieren, mit "getarnten" Ray-Ban Stories herumlaufen, können wir vielleicht wirklich präsent sein. Vielleicht wollen wir nicht aufgezeichnet werden. Oder wenn wir keine Facebook-Brille besitzen oder nicht auf Facebook sind, können wir möglicherweise nicht auf dieselbe Weise an sozialen Aktivitäten teilnehmen wie diejenigen mit den Brillen.

Bislang hat Facebook noch kein tragbares Gerät auf den Markt gebracht, das mit einem Mobiltelefon und einer Backend-Software zusammenarbeitet, und es ist klar, dass das Unternehmen in diesem Bereich ganz frisch ist. Es werden aktuell nur fünf "Verantwortungs-Regeln" [6] für Personen aufgeführt, die die Brille kaufen. Zu glauben, dass sich die Menschen tatsächlich an diese Regeln halten werden, ist entweder naiv oder sehr optimistisch.

Die Brille ist der erste Schritt von Facebook zum Aufbau eines kompletten Hardware-Ökosystems für die kommenden Versuche des Unternehmens, ein Metaverse zu schaffen. Mit Ray-Ban Stories hat das Unternehmen neue Möglichkeiten erhalten, Daten über das Verhalten, den Standort und die gewünschten Inhalte von Menschen zu sammeln – auch wenn das Unternehmen diese Informationen noch nicht verwendet –, während es auf seine hochgesteckten Ziele hinarbeitet.

Während Facebook einen riesigen Betatest in unseren öffentlichen Räumen durchführt, werden besorgte Menschen in der Öffentlichkeit noch mehr auf der Hut sein und vielleicht sogar Ausweichmaßnahmen ergreifen – wie das Tragen von Hüten oder Brillen oder das Abwenden von Personen, die Ray-Bans tragen. Wenn Facebook diese Brillen in Zukunft mit Gesichtserkennung [7]ausstattet – was das Unternehmen angeblich in Erwägung zieht –, werden die Menschen neue Gegenmaßnahmen ergreifen müssen. Das raubt uns den Frieden.

Ray-Ban Stories sind aktuell in den USA, Kanada, Großbritannien, Irland, Italien und Australien erhältlich. Wie die Menschen das Gerät nutzen und wie andere darauf reagieren, wird von Land zu Land sehr unterschiedlich sein, da die sozialen Normen, Werte, Gesetze und Erwartungen an die Privatsphäre verschieden sind. Facebook mag eines der ersten Unternehmen sein, das versucht, eine intelligente Kamerabrille einzusetzen, aber es wird nicht das letzte sein. Viele weitere Versionen werden folgen, und wir werden uns nicht nur vor den Ray-Bans in Acht nehmen müssen, sondern vor vielen Arten von Geräten, die uns auf subtile Weise aufzeichnen.

S.A. Applin [8] ist Anthropologin und leitende Beraterin. Ihre Forschung umfasst die Bereiche menschliches Handeln, Algorithmen, KI und Automatisierung im Kontext von sozialen Systemen.

(bsc [9])


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https://www.heise.de/-6194957

Links in diesem Artikel:
[1] https://www.heise.de/news/Facebook-bringt-smarte-Brille-mit-Ray-Ban-auf-den-Markt-6188530.html
[2] https://www.heise.de/select/tr/2017/9/1503852698324169
[3] https://www.heise.de/tr/
[4] https://doi.org/10.1016/j.jrt.2021.100010
[5] https://www.heise.de/news/Immer-im-Blick-4473574.html
[6] https://about.facebook.com/reality-labs/ray-ban-stories/privacy
[7] https://www.heise.de/hintergrund/Warum-US-Behoerden-den-verstaerkten-Einsatz-von-Gesichtserkennung-planen-6180149.html
[8] https://sally.com/wiki
[9] mailto:bsc@heise.de