Wundernetz aus Kohle

Je eine Milliarde Euro Förderung investiert die EU in zwei Leuchtturm-Projekte. Eines der Konsortien, das sich um den Geldsegen bewirbt, beschäftigt sich mit dem Werkstoff Graphen, von dem Forscher glauben, dass er viele Technologien umkrempeln könnte.

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Je eine Milliarde Euro Förderung investiert die EU in zwei Leuchtturm-Projekte. Eines der Konsortien, das sich um den Geldsegen bewirbt, beschäftigt sich mit dem Werkstoff Graphen, von dem Forscher glauben, dass er viele Technologien umkrempeln könnte.

Die Zukunft leuchtet grün und ist ungefähr so groß wie eine Tafel Schokolade. "Morph" haben die Designer von Nokia das Gerät genannt, das die fantastischen technischen Möglichkeiten von Graphen illustrieren soll: Mal ist es ein Multimedia-Tablet, dann – zusammengefaltet – ein handliches Mobiltelefon, und um dem Arm geschlungen wird es zur modischen Uhr. Noch ist Morph nur in Animationen zu sehen, existiert das Gerät nur in der Fantasie einiger Designer und Wissenschaftler. Doch das Projekt "Graphene CA" – CA steht für "Coordinated Action" – soll den Bau von diesem und ähnlichen technischen Wunderdingen ermöglichen.

Gemeinsam mit fünf Konkurrenten bewirbt sich das Graphen-Konsortium, das im Moment aus neun Forschergruppen und Unternehmen besteht, um den Status eines europäischen Leuchtturmprojekts. Dabei geht es um eine Menge Geld: Das Programm "Future and Emerging Technologies" (FET) der EU wird zwei der sechs Bewerber ab 2012 mit bis zu einer Milliarde Euro finanzieren – verteilt über insgesamt zehn Jahre. Die Sieger will die EU-Kommission im Frühjahr 2012 küren.

Während die meisten anderen Bewerber mit visionären wissenschaftlichen Entwürfen auftreten, setzt das Graphen-Konsortium auch auf die wirtschaftliche Karte. Für Europas IT-Industrie, davon sind die Wissenschaftler überzeugt, liegt die Zukunft im Werkstoff Graphen. Statt den technischen Entwicklungen in den USA oder Asien hinterherzulaufen, will die Forschergemeinschaft eine völlig neue Technologie auf der Basis von Graphen entwickeln.

Graphen ist chemisch zwar eng verwandt mit Graphit, wie es beispielsweise in schnöden Bleistiften verwendet wird. Aber der Wunderwerkstoff besteht nur aus jeweils einer einzigen atomaren Lage von Kohlenstoff – eine Art atomarer Maschendraht aus Sechsecken von chemisch miteinander verbundenen Kohlenstoffatomen. Obwohl Graphen chemisch gesehen zur Klasse der "Halbmetalle" zählt, also an der Schwelle zwischen elektrischem Leiter und Nichtleiter liegt, ist seine Ladungsträgerbeweglichkeit unglaublich groß. Diese Materialeigenschaft, die beispielsweise die Schaltgeschwindigkeit eines elektronischen Bauteils begrenzt, liegt für Graphen bei bis zu 200000 Quadratzentimeter pro Voltsekunde. "Das ist magisch", schwärmt Andre Geim von der University of Manchester. "Es ist um Größenordnungen mehr als bei allen anderen existierenden Materialien." Ein Graphen-Transistor könnte also zwischen hundert- und tausendmal schneller schalten als heute verwendete Transistoren aus Silizium.

"Bis vor wenigen Jahren sind wir davon ausgegangen, dass so etwas gar nicht existiert", sagt Geim. Der russische Physiker, der gemeinsam mit seinen Kollegen an der Uni von Manchester 2004 erstmals Graphen-Plättchen hergestellt hat und dafür 2010 den Physik-Nobelpreis erhielt, sitzt nun mit drei anderen Nobelpreisträgern im wissenschaftlichen Beratungsausschuss des Graphene-CA-Projekts. Die hochkarätige Besetzung unterstreicht eines der zentralen Argumente des Graphen-Konsortiums: Anders als bei der Prozessor-Entwicklung, der Software, dem Bau von Speicherbauteilen oder Displays ist die europäische IT-Industrie diesmal noch nicht weltweit abgeschlagen.

"Graphen ist eine genuin europäische Technologie", das betont auch Projektkoordinator Jari Kinaret, der an der Chalmers-Universität im schwedischen Göteborg lehrt und forscht. "Das Material vereinigt mehr Superlative auf sich als jeder andere Werkstoff", schwärmt er: Es sei ultraleicht, aber 300-mal stärker als Stahl, und lässt sich trotzdem bis zu 20 Prozent seiner Länge dehnen. Es habe ein optimales Verhältnis von Oberfläche zu Gewicht und eigne sich damit hervorragend zum Einsatz in Energiespeichern. Zudem sei der Stoff transparent und leite sowohl Strom als auch Wärme exzellent. Als wäre das nicht genug, sind Graphen-Membranen vollkommen gasdicht – nicht einmal die besonders kleinen Wasserstoff-Moleküle kommen hindurch. Schon ein einziges an die Oberfläche gebundenes Fremdmolekül kann aber die elektrischen Eigenschaften des Graphens so drastisch verändern, dass dieses sich als Detektor mit beispielloser Empfindlichkeit einsetzen ließe.

Eine Achillesferse hat aber auch der neue Star unter den Nano-Materialien: Es ist sehr schwer, damit digitale Elektronik zu bauen. Denn im Gegensatz zu einem Silizium-Transistor, der sich vollkommen abschalten lässt, fließt durch einen Graphen-Transistor auch im "Aus"-Zustand Strom. Mit Graphen-Transistoren lassen sich zwar sehr schnelle analoge Elektronikkomponenten – beispielsweise Frequenzmischer für Mobilfunk – bauen. Ein Computerchip aus Milliarden solcher Transistoren würde aber eine enorme Energiemenge verschwenden und sich deshalb kaum für die Praxis eignen.

Zwar gibt es verschiedene Ansätze, um auch Graphen zu einem reinen Halbleiter zu machen – Forscher der Eidgenössischen Materialprüfungs- und Forschungsanstalt EMPA in der Schweiz, des Max-Planck-Instituts für Polymerforschung in Mainz, der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich sowie der Universitäten Zürich und Bern entwickelten beispielsweise ein Verfahren, um dünne, halbleitende Graphenbänder herzustellen. Doch die verschiedenen bislang von Forschungsgruppen vorgestellten Verfahren sind noch zu unpräzise, das heißt die Materialeigenschaften der Bänder streuen noch zu stark. Digitale Elektronik aus Graphen sei deshalb "noch weit weg", meint Kinaret.