Kommentar: Microsofts App-Flucht nach vorne
Für .NET-Experte Holger Schwichtenberg sind die auf der Build 2015 angekündigten Android- und iOS-Apps auf Windows 10 der Knaller schlechthin, wäre da nicht das schlechte Image von Windows Phone.
- Dr. Holger Schwichtenberg
Microsoft hat uns schon letztes Jahr immer wieder überrascht: Windows 9 wird übersprungen und man hat endlich erkannt, dass Windows-Benutzer doch ein Startmenü wollen. Dann Open Source und Plattformunabhängigkeit zunächst für ASP.NET und die Rosyln-Compiler, schließlich für das ganze .NET Framework. Und nicht zu vergessen die Augmented-Reality-Brille Hololens.
Where no Microsoft has gone before
Auf der derzeit tagenden Build 2015 hat Microsoft aber eine noch viel größere Überraschung aus dem Hut gezaubert: Android- und iOS-Apps auf Windows 10. Und nicht nur auf Windows Phone 10: Apps für Windows laufen im Sinne einer echten Universal App auf allen Windows-10-fähigen Geräten, also PC, Tablet, Phone, Xbox, Raspberry Pi und sogar der Hololens.
Bevor das jetzt jemand falsch versteht: Windows 10 enthält keinen kompletten Emulator für die Betriebssysteme iOS und Android. Microsoft liefert vielmehr zwei SDKs, um den App-Programmcode in C++, Java und Objective-C für Windows Phone neu zu kompilieren. "With few code changes" heißt es auf der Website für Android-Apps (Projekt Astoria), und für iOS bedient sich Microsoft der Formulierung "make minimal changes" (Projekt Islandwood). Bibliotheken sorgen für die Umsetzung der API-Aufrufe beziehungsweise die Möglichkeit, APIs von Windows Phone zu ergänzen.
Noch ist nicht klar, wie viele Änderungen "few" und "minimal" wirklich bedeuten, denn beide Projekte hat Microsoft zwar auf der Build gezeigt, aber noch nicht veröffentlicht. Sie werden auch nicht zum Start von Windows 10 im Sommer fertig sein, sondern später nachgeliefert. Derzeit können sich Entwickler nur für ein Preview-Programm bewerben. Für Astoria muss man eine App als Referenz mitliefern. (Ein weiteres Projekt (Westminster) erlaubt es, Webseiten in Apps zu verpacken.)
Das Dilemma mit Windows Phone
Die Richtung, die Microsoft da einschlägt, ist die Flucht nach vorne. Microsoft hat es auch mit viel Geld und der Einverleibung von Nokia nicht geschafft, Windows-Smartphones zu einer bedeutenden Marktstellung zu verhelfen. Laut den IDC-Analysten ist der Marktanteil von Windows Phone im vierten Quartal 2014 von 3 auf 2,8 Prozent zurückgegangen. Mit seinen Pocket PCs war Microsoft ein Pionier im Markt der handflächengroßen (damals noch stiftbasierten) Computer. Doch im Touch-basierten Smartphone-Markt traten sie zu spät und falsch auf. Und Microsoft musste für die Smartphone-Sparte Massenentlassungen und Abschreibungen verkünden.
Im Windows Phone App Store fehlen weiterhin viele bedeutende Apps. Und er ist gefüllt mit Müll. Als Berater erlebe ich jeden Tag, wie meine Kunden sagen: "Windows Phone? Nein. Die App brauchen wir nur für iOS und Android". Auch ich als Windows-affiner Softwareentwickler habe ein Android-Gerät in der Tasche. Selbst das gute Preis-Leistungs-Verhältnis bei der Lumia-Hardware und Microsofts Cloud-Dienste können mich nicht zu Windows Phone locken, solange es viele populäre Apps für Windows Phone entweder gar nicht oder nur mit großer Zeitverzögerung gibt.
Natürlich hat Microsoft das "Henne-Ei-Problem": Die App-Entwickler entwickeln nicht für Windows Phone, solange es so wenig Benutzer gibt. Und die Benutzer benutzen Windows Phone nicht, solange es so wenig Apps gibt. Die riesige App-Landschaft von iOS und Android jetzt auf Windows Phone zu bringen, ist ein guter Schachzug – wenn es denn gut gemacht wird. Microsoft muss wirklich dafür sorgen, dass der Umstellungsaufwand für die Apps minimal ist, damit viele App-Entwickler den Schritt gehen.
Man darf ja noch träumen
Wenn dann alle Apps, die ich jetzt auf meinem Android-Telefon habe, auch auf Windows Phone laufen, dann kaufe ich mir auch ein Lumia. Und ich bin mir sicher, dass andere ebenso denken. Microsoft hat den richtigen Weg eingeschlagen. Jetzt muss der Softwareriese uns allen beweisen, dass er diesen schwierigen technisch Weg auch wirklich schafft. (ane)