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"Die Kernenergie wird nicht viel zum Klimaschutz beitragen können"

Niels Boeing

Michael Sailer, Nuklear-Experte am Öko-Institut und Mitglied der Reaktor-Sicherheitskommision, über Sicherheitsprobleme und Alterungsprozesse von Kernkraftwerken, mangelnde Rückwärts-Kompatibilität und die Zukunft der Kernenergie.

Kein Zweifel: Man debattiert wieder über die Kernenergie wie seit Jahren nicht mehr. Die Befürworter fühlen sich durch die Klimaszenarien des IPCC gestärkt und preisen [1] Kernenergie als CO2-emissionsfreie Energiequelle. Deshalb sollten die 2002 im Fahrplan für den Atomausstieg festgelegten Restlaufzeiten noch einmal überdacht, ja sogar verlängert werden. Die Gegner hingegen sehen sich durch die jüngsten Störfälle in Brunsbüttel und Krümmel [2] sowie vor einigen Tagen in Japan [3] bestätigt. Sie zweifeln an der Sicherheit vor allem der älteren AKW und wollen das Ausstiegspaket nicht noch einmal aufschnüren.

Dafür plädiert auch Michael Sailer, der am Öko-Institut den Fachbereich Nukleartechnik und Anlagensicherheit [4] leitet. Als Mitglied der deutschen Reaktor-Sicherheitskommission [5] hat der Technische Chemiker seit Jahren Einblick in die Details von etlichen Störfällen. Technology Review sprach mit Sailer über Sicherheit und Alterungsprozesse von Reaktoren, mangelnde Rückwärts-Kompatibilität und darüber, ob die Kernenergie für den Klimaschutz gebraucht wird.

Technology Review: Herr Sailer, wie ernst müssen wir die jüngsten Störfälle in den AKW Krümmel und Brunsbüttel im Hinblick auf die Reaktorsicherheit in Deutschland nehmen?

Michael Sailer: Die wesentliche Erkenntnis ist, dass bei vielen Abläufen sowohl technischer als auch administrativ-menschlicher Art Fehler aufgetreten sind. Man muss befürchten, dass das auch in anderen Fällen, wenn die Ereignisse schlimmer sind, eine Wirkung haben wird.

TR: Sind denn die beiden genannten Kraftwerke besonders fehleranfällig?

Sailer: Prinzipiell können eine Reihe von den Problemen, die aufgetreten sind, auch in anderen Anlagen auftreten. Die Schwierigkeiten auf der elektrischen und elektronischen Seite sind nicht vom Kraftwerkstyp abhängig; ebensowenig die Kommunikationsprobleme auf der Warte. Auf der anderen Seite ist die Notwendigkeit zu bestimmten Handlungen, um den Reaktor in einen sicheren Zustand zu versetzen, vom Reaktortyp abhängig.

TR: Wie wahrscheinlich ist angesichts der technischen Pannen dort, dass es zu einem noch größeren Störfall kommen könnte?

Sailer: Dazu kann man eigentlich keine Aussage machen. In den so genannten Probabilistischen Sicherheitsanalysen sind nur die Fälle erfasst, die man erkannt hat. Das heißt, wenn ein System versagt wegen eines unerkannten eingebauten Logik- oder Konstruktionsfehlers oder wenn ein menschlicher Ablauf nicht funktioniert, entdecken Sie das in so einer Studie nicht. Sie bekommen immer nur eine Aussage über die bereits bekannten Szenarien. Sie übersehen einen Teil, so dass die reale Wahrscheinlichkeit eines Störfalls durchaus höher sein kann, als man in diesen Studien ermittelt.

TR: Wie überraschend war denn die Wasserstoffexplosion in einer Leitung zum Reaktorkern in Brunsbüttel 2001?

Sailer: Diese Explosion war praktisch völlig neu. Man hat in der Vergangenheit zwar schon die Frage von Wasserstoffexplosionen geprüft, aber in aller Regel in einem anderen Zusammenhang. Dass eben Leitungen mit still stehendem Wasser sich mit Wasserstoff anreichern und explodieren können, wurde nicht als Störfallszenario im Detail betrachtet. Die Reaktor-Sicherheitskommission hat danach auch eine Empfehlung [6] verabschiedet, wie man diese Fälle in Zukunft systematisch analysiert.

TR: Welche Bedeutung haben die Störfälle Ihres Erachtens für die Diskussion um eine Laufzeitverlängerung der deutschen AKW?

Sailer: Das ist schwierig zu sagen. Das hängt davon ab, wie sich die politische und öffentliche Diskussion dazu weiterentwickelt. In der Regel haben solche Störfälle, vor allem, wenn sie vom Betreiber schlecht aufgearbeitet werden, eine kritischere Haltung zur Kernenergie zur Folge.

TR: Wie wirkt sich die Betriebsdauer auf die Reaktorsicherheit aus?

Sailer: Die Alterung ist ein ziemlicher komplexer Prozess, der inzwischen auch ins Blickfeld der Fachleute gerückt ist. Die Reaktor-Sicherheitskommission hat 2004 eine umfangreiche Stellungnahme [7] zur Kontrolle der Alterungsphänomene verabschiedet.

Teile, die nicht austauschbar sind, altern natürlich im Material. Solange das wie vorausberechnet geschieht, bewegt sich alles im formell geprüften Bereich. Aber man steckt nicht genau drin, ob die Prozesse genauso ablaufen.

Das zweite Problem ist, dass man während der Lebensdauer des Kernkraftwerks nicht alle Teile drin lässt, sondern im Laufe der Jahre austauscht. Sie bekommen aber solche Standardteile heute nicht mehr genau in derselben Ausführung und von demselben Hersteller wie vor 30 Jahren. Sie können damit nicht sicher sein, ob ein neu eingebautes Teil genau das erfüllt, was in den Sicherheitsanalysen steht.

Um Ihnen nur mal eine grobe Vorstellung zu geben, was das bedeutet, kann man einen Schalter betrachten: Da gibt es nicht nur die Zustände "ein" und "aus", sondern auch elektrische Störungen während des Umschaltvorgangs. Nun haben Sie beispielsweise von der Logik her einen hintereinander geschalteteten Prozess. Vor 20 Jahren haben Sie Einzelschritte mit einem Schalter betrieben, der eine klar definierte Schaltzeit von einer Sekunde und keine unklaren Zwischenstufen hatte. Jetzt ist es denkbar, dass Sie heute einen Schalter bekommen, der schneller oder langsamer geht oder zwischendrin unklare Signale generiert. Bei dynamischen Abläufen aus vielen Einzelschalthandlungen kann der Prozess dann schon anders ablaufen.

TR: Das klingt ja ein wenig wie in der Computertechnik, wo viele Komponenten nicht rückwärts kompatibel sind. Aber man wusste doch, dass die Anlagen auf 40 Jahre ausgelegt sind.

Sailer: Es kann zum Beispiel sein, dass ein Hersteller den Betrieb eingestellt hat. Elektrotechnische Normen haben sich zum Teil geändert. Die sind heute zunehmend nicht mehr national definiert, sondern international. Die Aussage, dass etwas kompatibel mit der heute gültigen Norm ist, sagt noch nichts darüber aus, ob es alle Eigenschaften hat, die man vor 30 Jahren in eine Sicherheitsanalyse eingesetzt hat. Da liegt der Teufel im Detail. Meistens klappt's, aber es sind Fehler bekannt, die aufgrund solcher Veränderungen zu neuen Störungsquellen wurden.

Ein weiteres Problem ist, dass man in allen Kernkraftwerken nachgerüstet hat, dass man nach einem Störfall angefangen hat, eine Komponente genauer zu betrachten. Die vollständige Sicherheitsanalyse ist aber oft nicht mitgeführt worden.

Hinzu kommt noch ein rechtliches Problem: Die Atomaufsichtsbehörde kann nicht fordern, dass eine Anlage vollständig auf dem neuesten Stand von Wissenschaft und Technik ist. Im Atomgesetz gibt es zwar einen dynamischen Grundrechtsschutz, aber nicht die Aussage, dass eine Anlage jedes Jahr an den gerade gültigen Stand angepasst werden muss. Das heißt, die Schere geht immer weiter auseinander. Die Anpassungen umfassen weniger, als man in einem neuen Kernkraftwerk umsetzen würde. Damit bekommt man auch beim Sicherheitskonzept selbst eine Alterung.

TR: Wie beurteilen Sie den Störfall in Japan, der durch ein eher seltenes äußere Ereignis – ein Erdbeben – ausgelöst wurde? Ist das nur ein japanisches Problem?

Sailer: Das ist grundsätzlich ein weltweites Problem. Es ist weltweit üblich, Kernkraftwerke gegen Erdbeben auszulegen. Die einfachste - aber nicht ausreichende - Maßnahme ist, dass man ein Erdbebenmessgerät installiert, und wenn bestimmte Beschleunigungsgrenzwerte überschritten werden, wird das Kraftwerk einfach abgeschaltet. Das ist auch der Grund, warum sich vier der sieben Reaktoren in dem japanischen Kraftwerk abgeschaltet haben. Solche Geräte sind auch in deutschen Kernkraftwerken installiert. Die wesentliche Debatte ist aber: Was ist das schlimmste Erdbeben, das man an dem Standort erwarten muss? Denn gegen dieses muss ich alle relevanten Teile auslegen. In Japan muss man sich fragen: Waren die Anlagen für ein schwächeres Erdbeben ausgelegt als jetzt passiert ist?

TR: Es wurde wiederholt darauf hingewiesen, dass wichtiges Kernenergie-Knowhow in Deutschland verloren gegangen ist. Ist dies auch dem langsamen Ausstieg zuzuschreiben, der ja letztlich mit einem Meinungswandel in Politik und Öffentlichkeit schon vor vielen Jahren begonnen hat?

Sailer: Ich denke, dass das geringere gesellschaftliche Ansehen der Kernenergie auch einen Effekt gehabt hat. Ein Berufsweg in der Kernenergie-Branche wird heute seltener gewählt. Das ist übrigens auch in Ländern wie Japan oder Frankreich so, in denen die politische Beschlusslage zur Kernenergie eine andere ist. Man kann heute niemanden mehr für einen Job in diesem Wirtschaftszweig gewinnen, indem man ihm sagt, er sei dann an der vordersten Front der technischen Entwicklung. Das war vor 30 Jahren so, aber das glaubt niemand mehr. Man muss trotzdem versuchen, möglichst qualifizierte Leute, auch Quereinsteiger aus verwandten Ausbildungen, für die Arbeit bei den Betreibern, Behörden und Gutachtern zu bekommen.

TR: Zuletzt hat die Diskussion über die Nutzung der Kernenergie eine neue Wendung genommen: Die Stromversorger argumentieren, sie sei für eine umfassende Klimaschutzstrategie unvermeidlich.

Sailer: Aus meiner Sicht wird die Kernenergie nicht viel zum Klimaschutz beitragen können. An der Primärenergie, die ja nur einen Teil des Klimawandelproblems darstellt, hat die Kernenergie einen weltweiten Anteil von gerade mal rund 6 Prozent. Das ist nicht viel. Soll sie einen nennenswerten Anteil haben, müsste man den deutlich erhöhen – also die Anzahl der Kernkraftwerke weltweit von derzeit zirka 440 auf 1000 oder 2000 erhöhen. Das geht weder technisch noch finanziell. Das Risiko steigt außerdem, wenn neue Kernkraftwerke in politischen Risikogebieten gebaut werden.

TR: In einigen EU-Ländern ist der Anteil aber deutlich höher...

Sailer: Für die Klimafrage ist aber eine weltweite Betrachtung entscheidend. Ein Problem ist, dass sie beispielsweise eine Verdopplung nicht schnell genug hinbekommen würden. Mit Planungs- und Bauzeiten müssen Sie ab der Entscheidung für ein Kernkraftwerk mindestens 15 Jahre einrechnen, bis die neue Anlage steht. Das können Sie mit anderen Technologien schneller hinbekommen.

Meines Erachtens brauchen wir eine intelligente Kombination aus drei Elementen: Erstens müssen wir die erneuerbaren Energien massiv nach vorne bringen – das ist inzwischen ein boomender, innovativer Wirtschaftszweig - nicht nur in Deutschland, sondern auch in anderen Ländern. Zweitens kann man die Einsparpotenziale noch viel weiter ausreizen, ohne Komfort und Arbeitsmöglichkeiten einzubüßen. Und drittens sollte man in der Übergangszeit bis 2050, bis erneuerbare Energien vollständig zur Verfügung stehen, auch fossile Energien in Anlagen mit hohen Wirkungsgraden einsetzen, allerdings mit abnehmender Tendenz.

Und wir reden hier ja nur über Primärenergie; den anderen klimawirksamen Effekten, z.B. Methanfreisetzung aus der Nahrungsmittelproduktion, kann ohnehin nur durch andere Maßnahmen begegnet werden.

TR: Welche Rolle spielt die Tatsache, dass auch die Uranreserven begrenzt sind?

Sailer: Bei gleichbleibender Anzahl von Kernkraftwerken reicht das Uran sicher noch einige Jahrzehnte. Wenn man 1000 bis 2000 Kernkraftwerke betreiben würden, bekämen wir ein ernstes Verknappungsproblem. Wenn Kernkraftbefürworter sagen, es gibt genug Uran, beziehen sie das immer auf den jetzigen Anlagenpark.

TR: Von den AKW der vierten Generation, den so genannten Hochtemperatur- oder Kugelhaufenreaktoren, wird gesagt, sie seien inhärent sicher. Gibt es diese inhärente Sicherheit?

Sailer: Es gibt keine absolute inhärente Sicherheit. Auf dem Papier können Sie einen inhärent sicheren Reaktor zeichnen, aber wenn Sie einen praktikablen Reaktor bauen wollen, gibt es immer Szenarien, in denen das nicht der Fall ist. Beim HTR ist das zum Beispiel ein Wassereinbruch aus der Sekundärseite. Wenn der HTR klein genug ist, sind die inhärenten Eigenschaften wesentlich besser als bei unseren jetzigen Anlagen. Deswegen ist der Traum der HTR-Befürworter, viele solche kleinen Module nebeneinander zu bauen. Dann bekommen sie aber ein wirtschaftliches Problem: Kleine Module sind pro Megawatt installierte Leistung teurer als große.

Das ist eigentlich keine Option, weil es keine fertig entwickelten Module gibt. Prinzipiell gearbeitet wird daran nur in China und Südafrika. In China, wo ich mir unlängst so eine Anlage angeschaut habe, konnte ich nichts entdecken, was auf eine bevorstehende Serienfertigung schließen lässt. In Südafrika ist die Technik nach wie vor umstritten und noch nicht realisiert. Und dann stellt sich noch die Frage: Realisierung auf welchem Sicherheitsniveau? Wenn die Module so viel kosten, ist die Versuchung da, irgendwo, z.B. an der Sicherheit, zu sparen.

Zu technischen Zukunftskonzepten für die Kernenergie und der so genannten "Renaissance der Kernkraft" siehe auch Technology Review 12/2003: "Atomkraft - ja bitte?" [8] (nbo [9])


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[3] https://www.heise.de/hintergrund/Rauchzeichen-ueber-Japans-Atomprogramm-280087.html
[4] http://www.oeko.de/das_institut/institutsbereiche/nukleartechnik_anlagensicherheit/dok/569.php
[5] http://www.rskonline.de
[6] http://www.rskonline.de/downloads/empradiolysegas.pdf
[7] http://www.rskonline.de/downloads/empfaltmanagement.pdf
[8] https://www.heise.de/hintergrund/Atomkraft-Ja-bitte-276833.html
[9] mailto:nbo@bitfaction.com