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Was war. Was wird. Chronist oder Chronoskop, das ist die Frage.

Das Universum und der ganze Rest? Ach ja, es steht einiges an, barmt Hal Faber, den all die Spinner und die Verharmloser der Spinner wirklich müde machen.

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Zeitenwende. Pfff. "Nur wer nicht in der Zeit, sondern in der Gegenwart lebt, ist glücklich. Für das Leben in der Gegenwart gibt es keinen Tod. Der Tod ist kein Ereignis des Lebens. Er ist keine Tatsache der Welt."

(Bild: DreamcatcherDiana / Shutterstock.com; Zitat: Ludwig Wittgenstein, Tagebuch, 8. Juli 1916)

Lesezeit: 7 Min.
Von
  • Hal Faber

Wie immer möchte die Wochenschau von Hal Faber den Blick für die Details schärfen: Die sonntägliche Wochenschau ist Kommentar, Ausblick und Analyse. Sie ist Rück- wie Vorschau zugleich.

(Bild: Bundesministerium der Verteidigung)

*** Oben im Bild findet sich ein kleines kryptografisches Rätsel. Die Geschichte dahinter hat der Kryptohistoriker Klaus Schmeh ausgebuddelt und seine Leser haben es im Handumdrehen gelöst: "Ich schwöre, der Bundesrepublik Deutschland treu zu dienen und das Recht und die Freiheit des deutschen Volkes tapfer zu verteidigen", eventuell mit einer zusätzlichen Berufung auf ein höheres Wesen. Der Soldateneid für Berufssoldaten und der für die freiwillig einen Wehrdienst ableistenden Bundesbürger ziert also als Morse-Code das Bundeswehr-Ehrenmal für getötete Bundeswehr-Soldaten in Berlin. Gestaltet wurde es von Manfred Bergmeister, der auch das Wüstentor zum Eingang der Deutschen Kriegsgräberstätte im ägyptischen El Alamein entwarf. In dieser Woche waren 3000 Polizeibeamte nach Recherchen des Bundeskriminalamtes, des Verfassungsschutzes und des Militärischen Abschirmdienstes im Einsatz, weil ehemalige und aktive Soldaten mit dem Versprechen, der Bundesrepublik treu zu dienen, nicht viel im Sinn hatten, sondern ein Deutsches Reich unter Heinrich XIII Prinz Reuß aufleben lassen wollten. Zu den verhafteten Reichsbürgern gehört der Ex-Oberst Maximilian Eder, der von einer "Zeitenwende" noch vor Weihnachten phantasierte, die friedlich und gewaltfrei passieren könne, "wenn die politischen Entscheidungsträger ein Einsehen haben". Ja, der selbst aus der Bundesrepublik ausgetretene Reichsbürger benutzte das Wort Zeitenwende, das praktischerweise gerade zum Wort des Jahres gekürt wurde. Für alle, die nicht ein Einsehen zur Wende hin zur Monarchie hatten, wurden Waffen gesammelt und Kasernen ausgekundschaftet, um zu "prüfen, ob dort nach einem Umsturz 'Truppen' untergebracht werden könnten". In der Gruppe soll auch diskutiert worden sein, mit einer kleinen, bewaffneten Gruppe in den Bundestag einzudringen.

*** Trotz der militanten Gedanken, die weit über das Festkleben der Klimaterroristen hinausgehen, wird die aufgeflogene Truppe in manchen Medien nur als "Spinner" bezeichnet. Noch seltsamer der Spiegel, dessen Titelbild zur "Operation Staatsstreich" wie ein Filmplakat zum nächsten Abenteuer von Indiana Jones aussieht. Selbst die eigentlich seriöse Süddeutsche Zeitung schreibt verharmlosend von Salatbar-Extremisten, weil es jede beliebige Mischung von Verschwörungstheorien in der Gruppe zu geben scheint. Angeblich soll der Begriff von Fahndern stammen, die solche Gruppen beobachten. Was die Sache nicht besser macht, denn als "Spinner" sind die Reichsbürger ganz nebenbei wirklich gefährlich. 2016 erschoss einer von ihnen in Georgensgmünd einen Polizisten und im April dieser Zeitenwende lieferte sich ein anderer in Boxberg ein Feuergefecht mit der Polizei. Da hilft es nichts, wenn der verwirrte Kopf der Truppe von einer "Staatsangehörigkeit Reuß" faselt und sich als Reichsverweser sieht. Die Terrorkomponente muss mitgedacht werden. Schließlich war der Auslöser der Ermittlungen die Existenz eines Anschlagsplanes, bei dem der Gesundheitsminister Karl Lauterbach entführt werden sollte.

*** Besagtem Minister Lauterbach ist dieser Tage ein ganzes Magazin gewidmet, in dem gefühlt drölfzigmal von der Digitalisierung des Gesundheitswesens die Rede ist. Da ist es schon mehr als Ironie, wenn zum Erscheinen des Textes die von ihm abhängige Projektgesellschaft Gematik mitteilt, dass die Laufzeitverlängerung der Konnektoren digital erfolgen kann, mit einem Update der Sicherheitszertifikate. Lauterbach fehlte wegen einer US-Reise übrigens auf dem lahmen Digitalgipfel der Bundesregierung, dem dringend ein Update empfohlen wird. Zum einjährigen Geburtstag der Ampel schwärmte Digitalminister Volker Wissing auf dem Gipfel von der smarten Ampel, die erkennt, ob sich ein Kind oder ein Rollstuhlfahrer auf dem Zebrastreifen befindet und dementsprechend das Grün verlängert. Klingt irgendwie kluch, aber zeigt auch nur, wie vordringlich der rollende (Auto-)Verkehr gedacht wird. Wird es einmal wirklich digital, sieht man in Deutschland schnell rot. Das zeigt die Veröffentlichung der interaktiven Deutschlandkarte mit den aktuellen Vorschriften für Windkraftanlagen. Prompt stellte das bayerische Landesamt für Digitalisierung und Vermessung Strafanzeige gegen den Datenjournalisten, der die Karte entwickelt hatte. Wobei es wieder hübsch ironisch ist, dass Karl Lauterbach genau diese Karte auf Twitter mit den Worten lobte: "Politik hat die Pflicht, auch die nächsten Generationen zu schützen. Dazu braucht man auch Maßnahmen, die unpopulär sind. Populismus ist Stillstand." Wer wissen will, wie Populismus geht, kann auf Twitter einem Markus Söder folgen, der von "Heimatenergien" fabuliert. Ja, das gehört zur Geschichte über den sagenhaften Windboom in Bayern.

*** Aber sollte man überhaupt auf Twitter bleiben in einer Zeit, in der der Besitzer von Twitter über den ersten Zusatz der US-Verfassung rabuliert und gleichzeitig seinen Mitarbeitern das Whistleblowing untersagt? Die in der letzten Wochenschau besprochene Veröffentlichung der "Twitter-Files" durch den Journalisten Matt Taibboi ist mit der nächsten Veröffentlichung durch die Journalistin Bari Weiss weitergegangen, es sollen weitere Beweise aufgetaucht sein, dass Twitter manipulierte. Nun ist Bari Weiss in Sachen Twitter nicht unbefangen, wie diese Wochenschau mit einem Link zeigt, in dem sie gegen Linke und Twitter vom Leder zog. Für ihren Abschied von der New York Times machte sie seinerzeit Twitter verantwortlich. Ihrem Lieblingsthema der woken Politik geht sie seitdem auch in einem deutschen Medium nach. Ob Mastodon besser ist, das ist einer der überflüssigeren Fragen. Nur soviel dazu: Dass das Fediverse immun gegen einen Feuersturm ist, ist eine Illusion, wie die Geschichte um den Raspberry-Polizisten zeigt.

Neben der Wahl des Wortes "Zeitenwende" als Wort des Jahres 2022 und der Wahl von Wolodymyr Selenski zur Person des Jahres sind bereits einige wichtige Entscheidungen für das nächste Jahr gefällt worden. Beispielsweise ist der Gartenschläfer zum Tier des Jahres 2023 geworden, eine Art, die wie die Spezies der Kolumnisten auf der Vorwarnliste aussterbender Geschöpfe steht. Letztere natürlich wegen ChatGPT, das die Welt, das Universum und den ganzen Rest verändern wird. Schon deshalb ist es vernünftig, unser Universum und den ganzen Rest zum Thema des Wissenschaftsjahres 2023 zu machen.

Doch es gibt im neuen Jahr auch Vertrautes zu erblicken. So ist Viva Magenta, Farbcode 18-750 von Pantone zur Farbe des Jahres 2023 gewählt worden. Die Farbe, eine "Mischung aus delirierend erhitztem Pink und einem Purpur aus der Tiefkühltruhe" (Kunstkritiker) ist uns wohlbekannt dank Telekom, der katholischen Kirche und dieser Beimischung zum FDP-Logo, die dem bekannten Gelb, "das ja auch ein Hinweis auf ein schweres Leberleiden ist, eine etwas barbiehaft frühkindliche Zuversicht zu verleihen" (wieder der Kunstkritiker). Der Chronist denkt dabei mehr an den Slogan "Die Zukunft ist Eins", den sich die Telekom vor Urzeiten einmal ausgedacht hatte. Noch uriger war eigentlich nur "Quatsch dich leer!" aus Olims Zeiten, mitsamt eigener Webseite und seltsamen plattgepressten zweidimensionalen Lebewesen. "Rote Farbtöne wie Purpur oder Karmin, einst die Farben von Königen und seinerzeit auch rein männliche Farben (Mädchen war das Marienblau zugedacht), wurden lange Zeit aus Schnecken und Schildläusen gewonnen", wie der Kunstkritiker kenntnisreich anmerkt, um zu seinem Urteil zu gelangen: "Läusesekret, Schneckentod, Monarchie, FDP, Katholiken, Metaversum. Das neue Jahr wird echt rosig." Tja, die Zukunft ist Null.

(jk)