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Was war. Was wird. Mit 100 Schritten ins Abseits als sicherer Ort.

Bill Gates findet passende Worte zur grassierenden Dummheit. Gegen Rassismus aber reichen Worte nicht. Was die Dummheit nur schlimmer macht, zürnt Hal Faber.

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Was war. Was wird. Mit 100 Schritten ins Abseits als sicherer Ort.

Ob das Mittelalter schon vorbei ist? Fragt man sich schon manchmal, bei all dem, an das Menschen heutzutage so glauben, bei all dem, was Einige an vermeintlichen Bedrohungen da aus dunkler Nacht des Unwissens aufsteigen lassen.

(Bild: Julia Raketic / Shutterstock.com)

Lesezeit: 9 Min.
Von
  • Hal Faber

Wie immer möchte die Wochenschau von Hal Faber den Blick für die Details schärfen: Die sonntägliche Wochenschau ist Kommentar, Ausblick und Analyse. Sie ist Rück- wie Vorschau zugleich.

*** Im Jahrhundert der Pest
Wohnte ein Mann zu Bow, nördlich London
Bootsführer, mittellos, ohne Ansehen, aber
Treu den Seinen. Umsichtig auch
In der Treue.
Aus den Städten unten
Wo die Pest war
Schleppte er das Essen aufwärts
Zu den wohlhabenden Ängstlichen
Auf ihren Schiffen in der Mitte des Stroms.
So nährte ihn die Seuche.

Werbung aus dem Jahre 1987... Andere Präsidenten, andere Probleme.

In "Hundert Schritt" erzählt Heiner Müller nach dem Bericht von Daniel Defoe, was in London am Ausgang des Mittelalters passierte, als die Pest in der Stadt wütete. Das ist lang her? Aber nicht doch, man lese nur, was der Schriftsteller John Burnside über seine Krankheit und das Leben mit dem Coronavirus aufgezeichnet und mit der bitteren Überschrift Ein ganzes Königreich ist krank versehen hat. "Denn über die vergangenen Monate ist mein Heimatland in eine Art Neumittelalter verfallen, in dem Aberglaube und eine herzlose Orthodoxie gesiegt haben – auf der Grundlage von Anspruchsdenken, Zynismus und vorsätzlicher Ignoranz. Aufgeklärtes Denken dagegen wird verachtet; wissenschaftliche Methoden werden belacht und verleugnet, wichtige Warnungen ignoriert." Ob es reicht, dass Großbritannien sich mit einer Art Walpurgisnacht der Selbstreinigung wieder zu sich findet, darf bezweifelt werden. Es sieht mehr nach einem Fahrplan ins Chaos aus. Das Neumittelalter geht weiter, auch wenn ein Bill Gates in London in diesen Tagen passende Worte zur Dummheit fand.

*** Apropos Dummheit: Boot an Boot lagen sie da, beim Berliner Schlauchboot-Rave im Landwehrkanal und feierten fröhlich das Ende, direkt vor einer Klinik. Die Bässe wummsten wie sonst nur das Konjunkturpaket, was sind schon 6963 Corona-Fälle in Berlin. Da ist der Rave-Ruf der Stadt wichtiger, denn die Touristen müssen wiederkommen, also bleiben wir mal ganz lässig. Wie war das noch? Berlin hat eine Vorreiterrolle als Heimat einer weltbekannten, vielfältigen und äußerst lebendigen clubkulturellen Landschaft. Das verpflichtet, so ein Wirtschaftsfaktor. Auf seine Art und Weise passt das neue Kreuz auf dem Humboldt-Forum zur Berliner Kultur, zusammen mit der vom Kaiser befohlenen Inschrift, die die Unterwerfung aller Menschen unter das Christentum fordert. So eine Weltoffenheit hat nun einmal ihre Grenzen. Einen ähnlichen Gedanken muss US-Präsident gehabt haben, als er sich mit einer hochgehaltenen Bibel fotografieren ließ. Er ist der Auserwählte, dem man sich unterwerfen muss.

*** Inmitten aller Auseinandersetzungen mit dem alltäglichen Rassismus in den USA lohnt es, sich mit dem "American Creed" zu befassen, wie ihn der Schwede Gunnar Myrdal schilderte. Myrdal war 1937 ins Land geholt worden, weil Schweden als einziges europäisches Land keine imperialistischen Tendenzen verfolgte. Sechs Jahre lang arbeitete er an einem umfassenden Bericht, der unter dem Titel An American Dilemma: The Negro Problem and Modern Democracy erschien. 1000 Seiten, 200 Seiten mit Fußnoten und 10 Anhänge stark, erschien das bittere Fazit im Jahr 1944. Jeder einzelne Aspekt der Lebensumstände der amerikanischen Schwarzen werde von den Weißen konditioniert. Schwarze seien vom Gesetz und der politischen Einflussnahme praktisch ausgeschlossen. Der Kongress und die Regierung seien entweder nicht bereit oder in der Lage, das Unrecht an den Schwarzen wieder gut zu machen. "White prejudice and discrimination keep the Negro low in standards of living, health, education, manners and morals. This, in its turn, gives support to white prejudice. White prejudice and Negro standards thus mutually ‘cause’ each other."

*** Nach dem Krieg, betonte Myrdal, müsse den Schwarzen, die in Europa für ihr Land kämpften, mit einem besonderen "Gewicht" die Gleichberechtigung zuerkannt werden. Myrdals Analyse hatte im Jahre 1954 entscheidenden Einfluss auf die Gerichtsverhandlung Brown gegen das Board of Education of Topeka, das die Rassentrennung für verfassungswidrig erklärte. Das Urteil spielte eine wichtige Rolle in den Bürgerrechtsbewegungen der fünfziger und sechziger Jahre. Genau 50 Jahre vorher war die Schrift The Negro Problem der amerikanischen Schwarzen erschienen, in der der institutionalisierte amerikanische Rassismus scharf kritisiert wurde. Gunnar Myrdal war übrigens anno 1944 optimistisch: "It is natural for the ordinary American when he sees something wrong to feel not only that there should be a law against it but, also that an organization should be formed to combat it." #BlackLivesMatter.

*** Da gibt es noch eine andere Organisation namens Fridays for Future. In diesen Tagen hat die einstmals sehr wichtige Hilfe zur Selbsthilfe namens selfHTML den 25. Geburtstag gefeiert. Das ist eine gute Gelegenheit, daran zu erinnern, wie es gegen die Abmahner von Symicron ging, mit Unterstützung einer Bürgerrechtsbewegung namens Freedom for Links, im Internet bis auf einen Eintrag in der Wikipedia längst vergessen. Vergessen sollte man nicht, wie der Gründer Stefan Münz sich in seinem eigenen Geburtstagsartikel mit Greta Thunberg beschäftigt, die ihn für Themen wie dem Klimawandel, der Klimakrise und der mit ihr einhergehenden patriarchalischen Ordnung sensibilisiert hat. Man kann also mit 59 Jahren noch lernfreudig sein. Ganz zum Schluss hat Stefan Münz einen Ausblick auf das Web, das Fediverse und den Sinn des Lebens stehen, aus dem ich schamlos kopiere: "Im Corona-Lockdown haben jedenfalls viele von uns bemerkt, wie wichtig web-basierte Kommunikation werden kann, sei es über Videokonferenzen oder neuere Kommunikationstools wie Discord oder Slack. Und zwar nicht nur begleitend oder als Ersatz für Real-Life-Kommunikation, sondern als vollwertige Alternative, um Geschäfte zu führen, im Team zu arbeiten, demokratische Entscheidungen zu finden, oder Jugendliche zu unterrichten. Im weiteren Verlauf der Klimakrise werden wir lernen, uns weiter von althergebrachten Formen des Zusammenarbeitens, des Verhandelns und des Entscheidens zu lösen. Vielleicht auch von bisherigen Formen von Massenveranstaltungen. Das Web ist nutzungsoffen genug, um allgemein akzeptierte Lösungen dafür zu finden. Dazu gehört auch, dafür zu sorgen, dass der Strom, der für all die nötige Infrastruktur verbraucht wird, irgendwann kein schmutziger Strom mehr sein wird." So geht Wumms, ganz ohne ein Konjunkturpaket, in dem nicht ein einziges Mal das Wort "Pflege" auftaucht.

Werden wir es lernen mit der "neuen Normalität", die jetzt schon ziemlich nah an der alten Realität ist? Wir sind, aber wir haben noch nicht die Heimat 2.0, da ist der Wettbewerb gerade gestartet. Auch Gaia-X als Goldstandard ist vorerst nur eine schicke PDF-Datei mit 11 Seiten Absichtserklärungen, wird aber schon als Moonshot gelobt. Da sind andere Schüsse und Taten, die aufhorchen lassen. So ein Hinter-dem-Mond-Schuss ist die Nachricht, dass der Verfassungsschutz die sogenannte Quellen-TKÜ nutzen darf, mit der Chats und andere Systeme vor der Verschlüsselung und nach der Entschlüsselung abgehört werden dürfen. Auf die weitergehende Überwachung in Form der Online-Durchsuchung will man großzügigerweise verzichten, worüber gerade Journalisten erleichtert sind. Nur zur Erinnerung: Das Bundesamt für Verfassungsschutz ist die Organisation, die die Klimaaktivisten von Ende Gelände als Linksextremisten eingestuft hat. Alles schlimmste Antifa da auf den Bäumen.

Werbung aus dem Jahre 1997. Iomega warb für seine ZIP-Disks mit Schwarzen und bekam Probleme.

Im Blog des Chaos Computer Clubs ist ein Pestarzt zu sehen, wie er damals in London im Einsatz war. Man kennt diese Figuren etwa vom Frontispiz des Leviathan, den Thomas Hobbes veröffentlichte. Da schleichen die Vögel über die leeren Plätze. Beim CCC will man nur aufkommende Spekulationen zum Jahresendkongress unterbinden, der, wenn überhaupt, nur in Leipzig stattfinden kann. Ob nach einem verregneten Sommer im Herbst die zweite Welle kommt und den Congress der Hacker verunmöglicht, ist eine offene Frage, die aufmerksam verfolgt werden kann. Denn die guten Hacker müssten sich doch treffen können, gerade jetzt, wo die "Viren im Goldrausch" sind, wie die FAZ in ihrer Supercomputer-Panik. Krieg den Rechenpalästen! Überall Cyberangriffe auf Hochleistungsrechenzentren, die zu Bitcoin-Schürfstations umfunktioniert werden, diesem Geldmonster der Finanzkrise. Was bleibt, ist Schaudern in den Hütten.

Aber in der Hütte
Bei der Frau mit dem Vierjährigen
War die Pest auch.
Und jeden Abend brachte er seinen Sack Lebensmittel,
Frucht eines Tages, vom Fluß herauf an einen Stein hundert
Schritt vor der Hütte.
Dann, sich entfernend, rief er die Frau. Beobachtend
Wie sie den Sack aufhob, jede ihrer
Bewegungen aufmerksam verfolgend
Stand er noch eine Zeit
In der sicheren Entfernung
Und erwiderte ihren Gruß.

(Heiner Müller, Hundert Schritt)

(jk)