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Was war. Was wird. Sag mir, wo die Pillen sind, wo sind sie geblieben.

Rote oder blaue Pille? Nehmen wir die schwarze, empfiehlt Hal Faber, sie hat schon bei Anderen zu Weitsicht ohne seltsame Verschwörungstheorien geführt.

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(Bild: Smile Shot / Shutterstock.com)

Lesezeit: 7 Min.
Von
  • Hal Faber

Wie immer möchte die Wochenschau von Hal Faber den Blick für die Details schärfen: Die sonntägliche Wochenschau ist Kommentar, Ausblick und Analyse. Sie ist Rück- wie Vorschau zugleich.

*** Wird’s morgens früher heller,
stellt man zurück. Nein, umgekehrt:
Dann gehn die Uhren schneller.
So kommt im Herbst die finstre Nacht
schon eher. Blödsinn – später!

Was Generationen von Poeten seit der Sommerzeit-Idee von Abu Ali al-Hasan al-Marrakushi zu den schönsten Gedichten inspiriert, ist wieder einmal geschafft: Die Sommerzeit ist ausgestellt, die Normalzeit, die aus der neuen Normalität, tickt vor sich hin in dieser unserer Realität.

(Bild: Gerd Altmann, gemeinfrei (Creative Commons CCo))

Das Wetter spielt zwar nicht mit und tut gerade so, als sei es weiter Sommer, aber wann spielt das Wetter überhaupt mit in diesen das Klima wandelnden Zeiten? Da ist es gut, auf die Poetin zu hören. Ingeborg Bachmann hat es besser formuliert als unser Buprä mit seiner Rede von Blut, Schweiß und Trä^h^h, ähem, natürlich Gegenwind, Zerreißprobe und Verzicht über die rauen Jahre, die da kommen werden.

Es kommen härtere Tage.
Die auf Widerruf gestundete Zeit
wird sichtbar am Horizont.

*** Blaue oder rote Pille? Elons Musk mag die Übernahme vom blaue Vögelchen Twitter finanztechnisch abgeschlossen haben, doch entschieden ist damit noch gar nichts, wie sein Tweet über ein demnächst von ihm eingerichtetes "moderation council" zeigt. Sein privates Komitee bestimmt die Grenzen der "free speech" in den USA, in Kim Dotcoms Neuseeland, in Europa und natürlich in Saudi-Arabien, wo die Kingdom Holding Company als zweitgrößter Eigner ihren Sitz hat. Es mag ein riesiger finanzieller Kraftakt gewesen sein, doch die Übernahme von Twitter ist ein politischer Akt. Die zahlreichen anstehenden Entlassungen ändern nichts daran, sie sind nur der einfachste Weg, den Laden möglichst schnell profitabel zu machen. Insofern ist noch lange nicht entschieden, ob Elon Musk die blaue oder rote Pille geschluckt hat oder gar beide, um die Sache zu beschleunigen. Denn das Wunderland der Pillen ist das, was Musk will: "you stay in Wonderland, and I show you how deep the rabbit hole goes." Wie verrückt Musk in diesem nunmehr seinem Wunderland agiert, zeigt eine kurze Notiz vom zweiten Tag nach der Muskübernahme: Danach mussten etliche Programmierer den Code ausdrucken, den sie in den letzten 30 bis 60 Tagen geschrieben haben, damit Musk ihn lesen kann. Kurz darauf kam die Order der Muftis, die Ausdrucke sicher zu shreddern, deep down the rabbit hole.

*** Ein Kaninchenbau ganz anderer Art beschäftigte die sozialdemokratischen Pfeffersäcke in Hamburg. Über den Einstieg des chinesischen Staatsunternehmens Cosco beim Containerterminal Tollerort sind wohl nur der neue und der alte Bürgermeister zufrieden. Dabei geht es nicht nur um die Höhe der finanziellen Beteiligung, sondern auch um die symbolische Ebene in den anstehenden rauen Jahren. Cosco ist die einzige große Reederei, die jetzt noch russische Häfen anläuft. Auf den Cosco-Schiffen wird der rote Motor in Ehren gehalten: "Stolz verweist Cosco darauf, dass auf jedem seiner Schiffe ein Politkommissar mitfahre und dass 83% der im Ausland tätigen Mitarbeiter Parteimitglieder seien." Komplettiert man diese Details um die Berichte über illegale Polizeistationen im Ausland und die stalinistische Schau der Krönung von Kaiser Xi mitsamt der Verhaftung seines Vorgängers Hu Jintao, so wäre ein kleines bisschen Nachdenklichkeit angemessen. Aber das fällt schwer in einer Partei, in der in ehemaliger Häuptling die deutsche Gesetzgebung zur Homosexualität bis 1994 mit der Lage von Homosexuellen in Katar vergleichen darf – auf Twitter natürlich, mit der schlichten Verallgemeinerung, "wir" Deutschen beleidigten das Land tagtäglich. Wer erinnert sich da noch an Sozialdemokraten, die offen für einen Boykott von Fußball-Weltmeisterschaften warben. So geschehen 1978 anlässlich der Fußball-WM in Argentinien, so geschehen 1934 bei der von und für Mussolini inszenierten Fußball-WM in Italien. Ja, wie sagte es noch Xi-Vorgänger Hu Jintao vor 14 Jahren zu den Kritikern der Olympischen Sommerspiele von Peking "Don't mix politics with games".

*** Er hoffte auf den Aufstand der Latinos und Schwarzen aus der Inner City von Los Angeles. Sein Buch "City of Quartz. Ausgrabungen der Zukunft in Los Angeles" von 1990 ist der Klassiker kritischer Urbanistik. In ihm sagte er die Los Angeles Riots von 1992 voraus, bei uns "Rassenunruhen" genannt, die 63 Menschen das Leben kosteten und einen Schaden von einer Milliarde Dollar verursachten. Er schrieb in "Casino Zombies" über ein Las Vegas, das jegliche verantwortliche Wasser- und Umweltpolitik aufgegeben hatte. Seine Ökologie der Angst beschäftigte sich 1998 mit den Tornados, Feuersbrünsten und Schlammlawinen in Kalifornien. Nun ist der schreibende Stadtguerillero Mike Davis gestorben. Der Krebs raffte ihn dahin, der frühzeitig darüber schrieb, dass Corona das privatisierte, marode Gesundheitssystem der USA zum Zusammenbruch bringen kann. In einem seiner Bücher berichtete er über den Ghost Dance indianischer Stämme, eine Praxis, die um 1880 sehr populär wurde. In den Träumen der Geistertänzer wurde der weiße Mann zu einer Plage, zu einem Albtraum, aus dem man eines Tages erwachen würde, nach der reinigenden Katastrophe – der Auslöschung des weißen Mannes. "Natürlich ist das ein verlogener Versuch, das spirituelle Vermächtnis der Native Americans für die Zwecke einer marxistischen Polemik zu konfiszieren." Mike Davis war ein Freund der schwarzen Pille.

Kaum ist die Zeitumstellung geschafft, wartet eine neue Herausforderung auf uns: Halloween, das Fest der Patente und der Albträume, die uns bedrücken.

Für lange Zeit kündeten die Halloween Documents von den Alpträumen, die man bei Microsoft seit 1998 träumte, nur um mitten in der Nacht schweißgebadet nach einem höllischen Lachen vom Pinguin des Grauens aufzuwachen. Es dauerte bis 2003, ehe Bill Gates (damals Chefstratege von Microsoft) und Steve Ballmer (damals Chef) eine ihrer letzten Parodien verfilmten, mit Gates als Morpheus und Ballmer als Steve-O. Leider ist nur ein Stück davon für die Nachwelt in der Röhre erhalten geblieben, denn die Parodie durfte aus rechtlichen Gründen nicht öffentlich gezeigt werden. Doch auch hier gab es die unvermeidliche Frage: blaue oder rote Pille? Ballmer schluckte bekanntlich die rote, von Gates als Innovations-Pille angepriesen. Die blaue war ein dicker Brocken, der viele Leute beschäftigte. Oder, in Gates' Worten: "Armies of consultants are running around the IT world. You take the red pill, you stay in Wonderland." So sind wir halt im Wunderland geblieben und warten auf die rauen Jahre.

(jk)