737 Max: Untersuchungsbericht zu Lion Air 610 belastet Boeing

Fehler bei Design, Zulassung und Dokumentation des Fluglagesystems MCAS haben zum Absturz der Maschine beigetragen, sagen indonesische Ermittler.

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737 Max: Untersuchungsbericht zu Lion Air 610 belastet Boeing

Boeing 737 Max der Lion Air.

(Bild: Boeing)

Lesezeit: 6 Min.
Inhaltsverzeichnis

Mangelndes Verständnis der Funktionsweise eines neuen Fluglagestabilisationssystems und konzeptionelle Fehler haben zum Absturz einer Boeing 737 Max der indonesischen Lion Air im Oktober 2018 beigetragen. Das teilten die mit der Untersuchung des Absturzes von Flug 610 befassten Ermittler den Angehörigen der 189 Todesopfer in Jakarta mit, bevor am Freitag der offizielle Untersuchungsbericht veröffentlicht wird.

Schon in ihrem Zwischenbericht hatten die Unfallermittler Hinweise gefunden, dass das von Boeing für die 737 Max entwickelten Maneuvering Characteristics Augmentation System (MCAS) maßgeblich zur Absturzursache beigetragen haben könnte. Auch beim Absturz einer Boeing 737 Max der Ethiopian Airlines im März steht MCAS unter Verdacht. Nach dem zweiten Unglück mit 157 Todesopfern wurde der Flugzeugtyp weltweit mit einem Flugverbot belegt.

MCAS soll mit automatischem Trimmen des Höhenruders aerodynamische Effekte der größeren und anders aufgehängten Triebwerke kompensieren und verhindern, dass das Flugzeug in kritische Fluglagen gerät. Boeing wird vorgeworfen, Aufsichtsbehörde, Airlines und Piloten nicht ausreichend über Funktion und Wirkweise des Systems informiert zu haben, um der 737 Max eine schnellere Zulassung zu ermöglichen.

Die indonesischen Behörden gehen laut einem Bericht der Nachrichtenagentur Reuters davon aus, dass die Zulassung der 737 Max unter falschen Annahmen über die Wirkweise von MCAS und mögliche Reaktionen von Piloten erfolgte. Zudem seien die Funktionsweise von MCAS und die Auswirkungen auf andere Cockpitsysteme nicht dokumentiert worden, weshalb die Piloten nicht wussten, womit sie es zu tun haben. Auch hat Fehlverhalten der Crew zum Unfallhergang beigetragen.

Erschwerend kam hinzu, dass MCAS nur Daten von einem der zwei Anstellwinkelsensoren des Flugzeugs erhält und eine Plausibilitätsprüfung damit nicht möglich ist. Beim Absturz der Lion-Air-Maschine lieferte der Sensor falsche Daten, nachdem er bei einer Reparatur falsch eingestellt worden war. Das System vermutete einen drohenden Strömungsabriss und trimmte in der Startphase die Nase der Maschine immer wieder nach unten.

Auch hier sieht sich Boeing mit dem Vorwurf konfrontiert, diese Konstruktion bewusst gewählt zu haben: Kritische Flugsysteme müssen redundant ausgelegt werden. Bei der Zulassung eines solchen Systems hätte die FAA womöglich darauf bestanden, dass MCAS dokumentiert und Piloten extra geschult werden müssten. Das hat Boeing offenbar zu vermeiden versucht, um die 737 Max mit der Typzulassung ihres Vorgängers und für die Airlines so kostengünstig wie möglich in die Luft zu bekommen.

Der Flugzeughersteller steht in den USA zunehmend unter Druck. Das US-Justizministerium hat Ermittlungen eingeleitet. In der kommenden Woche muss sich CEO Dennis Muilenburg in Washington dem US-Kongress stellen. Seinen Posten als Vorsitzender des Verwaltungsrats hat Muilenburg schon abgeben müssen, damit er sich ganz auf das Management der Krise konzentrieren kann.

Unter Druck: CEO Dennis Muilenburg.

(Bild: Shutterstock/John Gress Media Inc)

Zuletzt war ein Chatprotokoll aufgetaucht, in dem sich zwei maßgeblich mit der Zulassung der 737 Max befasste Boeing-Mitarbeiter über Probleme mit MCAS während eines Simulatorflugs bei niedriger Geschwindigkeit austauschen. Boeing bedauert, dass die Veröffentlichung ohne "sinnvolle Einordnung" erfolgt sei und betont in einer Stellungnahme, dass es um Fehler in der Simulatorsoftware gehe, die noch getestet wurde.

Inzwischen halten es auch Luftfahrtexperten für unwahrscheinlich, dass die von den Testpiloten beschriebenen Simulatorprobleme ein frühes Indiz für Fehlfunktionen von MCAS sein könnten. Der Seattle Times zufolge hat einer der Beteiligten an diesem Chat bestätigt, dass er die Unterhaltung dahingehend verstanden hat, dass es um einen Fehler in der Simulatorsoftware ging.

"Boeing hat die FAA über die Ausdehnung des Maneuvering Characteristics Augmentation System (MCAS) auf niedrige Geschwindigkeiten informiert", erklärt der Hersteller weiter und widerspricht damit zumindest teilweise einem gemeinsamen Evaluationsbericht internationaler Luftfahrtbehörden, laut dem Boeing während der Zulassung der 737 Max die FAA unzureichend über MCAS informiert hatte.

Das schwerfällige Krisenmanagement des Rüstungsriesen macht inzwischen auch Aufsichtsräte und Aktienmärkte unruhig. Nun gibt es erste personelle Konsequenzen. Nachdem schon CEO Muilenburg aufs Operative zurechtgestutzt wurde, hat der Verwaltungsrat am Montag den Chef der Verkehrsflugzeugsparte, Kevin McAllister, gefeuert. Seinen Job übernimmt Stan Deal, der bisher das Servicegeschäft von Boeing geleitet hat.

McAllister hinterlässt einige Problemfälle: Da ist zuerst das 737-Max-Desaster. Boeing will das Flugzeug noch in diesem Jahr wieder in die Luft kriegen. Airlines stellen sich aber bereits auf längere Standzeiten für die über 300 betroffenen Maschinen ein. Zuletzt waren bei der 737 NG Haarrisse in einem Verbindungsbauteil zwischen Rumpf und Tragflächen aufgetaucht. Dazu kommen Triebwerksprobleme bei der neuen 777X, deren Jungfernflug aufs nächste Jahr verschoben werden musste, auch die Auslieferung verzögert sich bis 2021. Zudem gehen die Bestellungen der 787 Dreamliner zurück, was Boeing zu einer Reduzierung der Produktion veranlasst.

Unterdessen hat Boeing die überarbeitete Software und vollständige Dokumentation an die US-Aufsichtsbehörde FAA übermittelt, wo sie nun für die Wiederzulassung des seit Frühjahr mit einem weltweiten Startverbot belegten Flugzeugtyps geprüft wird. Diese Prüfung dürfte mindestens noch einige Wochen dauern, sagte FAA-Chef Stephen Dickson laut einem Bericht der Nachrichtenagentur Reuters.

Die 737-Max-Krise schlägt nun auch auf die Bilanz durch. Am Dienstag hat Boeing die Zahlen für das dritte Quartal vorgelegt. Der Umsatz ist um ein Fünftel auf 20 Milliarden US-Dollar geschrumpft. Unter dem Strich verdiente der Airbus-Rivale mit knapp 1,2 Milliarden US-Dollar (rund 1,1 Milliarden Euro) nur knapp halb so viel wie ein Jahr zuvor.

Während in den anderen Bereichen Business as usual herrscht, leidet besonders die Verkehrsflugzeugsparte: Nur 62 Flugzeuge hat Boeing ausgeliefert, im Vorjahresquartal waren es 190. Der Umsatz ist um 40 Prozent auf 8,25 Milliarden US-Dollar eingebrochen, die Sparte weist einen operativen Quartalverlust von 40 Millionen US-Dollar aus. "Höchste Priorität hat weiterhin die sichere Rückkehr der 737 Max in den Flugbetrieb", sagte Muilenburg. (vbr)