Boeing 737 Max: Whistleblower prangert fehlende Sicherheitskultur bei Boeing an

Ein an der Entwicklung von Cockpitsystemen beteiligter Ingenieur mahnt in einer internen Beschwerde, dass bei Boeing Kosten und Zeitplan vor Sicherheit gehen.

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Boeing 737 Max: Whistleblower prangert Unternehmenskultur an

Endmontage der ersten 737 Max.

(Bild: Boeing)

Lesezeit: 7 Min.
Inhaltsverzeichnis

Boeing gerät in der Affäre um mögliche Mängel des Hoffnungsträgers 737 Max immer mehr unter Druck. Ein Boeing-Ingenieur hatte US-Medienberichten zufolge eine interne Beschwerde verfasst, dass ein Erfolg versprechendes Sicherheitssystem aus Kostengründen nicht für die 737 Max entwickelt worden sei.

Das wirft zusätzliche Fragen über die Sicherheitskultur im Unternehmen auf. Darüber hinaus gerät nun auch CEO Dennis Muilenburg ins Visier: Ende Oktober muss der Boeing-Chef vor einem Ausschuss des US-Repräsentantenhauses aussagen – und erste Rufe nach seiner Ablösung werden laut.

Nachdem zwei Maschinen unter vergleichbaren Bedingungen abgestürzt waren, haben Flugaufsichtsbehörden der Boeing 737 Max 8 weltweit Flugverbot erteilt. Bei den Abstürzen der Maschinen der indonesischen Lion Air im Oktober 2018 und der Ethiopian Airlines im März 2019 waren 346 Menschen ums Leben gekommen. In beiden Fällen besteht der begründete Verdacht, dass eine von Boeing neu eingesetzte Software zur Fluglagestabilisierung die Unglücke maßgeblich mit verursacht hat.

Bei bestimmten Fluglagen soll dieses Maneuvering Characteristics Augmentation System (MCAS) mit automatischen Korrekturen am Höhenleitwerk (Trimmung) die Maschine vor einem Strömungsabriss schützen. Im Fall der Lion Air gehen die Ermittler davon aus, dass der Flugcomputer aufgrund fehlerhafter Sensordaten eine zu geringe Geschwindigkeit sowie einen drohenden Strömungsabriss annahm. Das System versuchte dann während der Startphase, mit Korrekturen des Höhenleitwerks die Nase der Maschine nach unten zu drücken. Die Piloten arbeiteten mit dem Steuerknüppel bis zuletzt dagegen – vergeblich.

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Das unerwünschte Verhalten des MCAS hätte möglicherweise verhindert werden können. Das legt ein Boeing-Entwickler in einer Beschwerde nah, die er nach dem zweiten Absturz über ein unternehmensinternes Whistleblowerprogramm abgesetzt hat. Darin kritisiert er laut einem Bericht der Seattle Times, dass in der Entwicklungsphase der 737 Max ein neues Sicherheitssystem nicht berücksichtigt worden sei, das dem unerwünschten Verhalten des MCAS hätte entgegenwirken können.

Die 737 Max sollte die Typenzulassung ihrer Vorgänger erben, um eine kostspielige und zeitraubende Neuzulassung zu vermeiden. Die größeren, sparsameren und leiseren Triebwerke, die den A320neo so attraktiv machen, platzierten die Boeing-Ingenieure deshalb etwas weiter vorne und höher, ohne große Änderungen an Fahrwerk und Tragflächen. Den dadurch verschobenen Schwerpunkt und unliebsamen zusätzlichen Auftrieb sollte das neue MCAS kompensieren. Ein Problem von MCAS ist, dass es sich dabei nur auf die Daten eines der beiden Anstellwinkelsensoren des Flugzeugs stützt.

Schon eine Anbindung des zweiten Sensors hätten eine Fehlfunktion des Systems und damit möglicherweise die zwei Abstürze verhindern können. Doch Boeing sieht sich mit dem Vorwurf konfrontiert, darauf aus Kostengründen verzichtet zu haben: Redundant abgesicherte Systeme sind aus Sicht der Zulassungsbehörde besonders sicherheitsrelevant, bei einer Neueinführung müssten Piloten entsprechend geschult werden. Aber Schulungsbedarf wollte das für die Entwicklung der 737 Max verantwortliche Management unbedingt vermeiden, heißt es in dem nun bekannt gewordenen internen Whistleblower-Bericht.

Der Druck auf Boeing–CEO Dennis Muilenburg nimmt zu.

(Bild: Shutterstock/John Gress Media Inc)

Auch das System, an dessen Entwicklung der Whistleblower beteiligt war und das heute in der Boeing 787 eingesetzt wird, hätte bei der 737 Schulungsbedarf für Piloten bedeutet. Dieses System berechnet aus verschiedenen vorhandenen Daten die wahrscheinliche Fluggeschwindigkeit relativ zur Umgebungsluft und bewertet anhand dieser "Synthetic Airspeed" die Plausibilität der Sensordaten. Bei inkonsistenten Daten dürfte ein Steuerprogramm wie MCAS dann nicht eingreifen.

Man kann nicht ohne Weiteres davon ausgehen, das "Synthetic Airspeed" die zwei Abstürze verhindert hätte, räumt der Whistleblower ein. Auch zitiert die New York Times einen Insider, der bezweifelt, dass das für die 787 "Dreamliner" entwickelte System ohne Weiteres in der 737 Max eingesetzt werden könnte, weil die Maschine weniger Sensoren hat. Doch sei die Entscheidung gegen "Synthetic Airspeed" auch im Hinblick auf Risiken für den engen Zeitplan gefallen. Für den Whistleblower ist das ein strukturelles Problem: Das Management habe sich "mehr um Kosten und Zeitplan gekümmert als um Sicherheit und Qualität".

Es hat schon vorher Anzeichen gegeben, dass die Unternehmenskultur bei Boeing ein Teil des Problems sein könnte. Späte Änderungen an MCAS – etwa die Entscheidungen, nur eine Datenquelle anzubinden und wiederholte Trimmung zu erlauben – waren bei der Zulassung der 737 Max weder allen beteiligten Ingenieuren und Testpiloten noch der Aufsichtsbehörde FAA bewusst. Darüber hinaus sollen Boeing und die FAA eng miteinander verquickt sein, dass sich der Hersteller auch in sicherheitsrelevanten Bereichen de facto selbst kontrolliert.

Der Whistleblower berichtet nun auch, dass Boeing der europäischen Aufsichtsbehörde EASA Informationen vorenthalten habe. Die Europäer wollten demnach fünf Vorfälle untersuchen, bei denen sich die automatische Schubkontrolle einer 737 im Anflug abgeschaltet und für Verwirrung im Cockpit gesorgt hatte. Der Whistleblower, der auch einem Team zur Analyse von Zwischenfällen angehörte, hat eigenen Angaben zufolge fünf weitere ähnliche Vorfälle in der Datenbank von Boeing gefunden. Doch ein Manager habe empfohlen, diese nicht der EASA zu geben.

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Auch Boeing-Chef Dennis Muilenburg gerät daher zunehmend unter Druck. Jetzt sei es "wesentlich, dass wir einen Schritt zurücktreten und einen demütigen Blick auf unsere Kultur werfen", räumte der CEO in der vergangenen Woche ein und kündigte ein Maßnahmenpaket an, das die Sicherheitskultur im Unternehmen stärken soll. Ende des Monats muss sich Muilenburg vor dem Verkehrsausschuss des US-Repräsentantenhauses kritischen Fragen stellen; eine Woche zuvor legt der Konzern seine Quartalszahlen vor. Die Anleger halten noch die Füße still, auch wenn Börsenwert und Bilanz des Flugzeugriesen schon eine deutliche Delle bekommen hat. Sie setzen darauf, dass Muilenburg die 737 Max wieder in die Luft bringen kann.

Die Frage ist: Wann. Boeing hatte gehofft, mit den für die Wiederzulassung notwendigen Prüfungsflügen bald beginnen zu können, um die 737 Max bis Ende des Jahres wieder in der Luft zu haben. Noch überarbeitet das Unternehmen die Software und korrigiert damit auch einen Fehler, den die FAA im Laufe der aktuellen Untersuchung gefunden hatte. Derzeit sind Unternehmensvertreter unterwegs, um den Aufsichtsbehörden weltweit ihre Pläne zu erläutern. Die für andere Lufträume zuständigen Behörden werden bei der Wiederzulassung ganz genau hinsehen und nicht einfach der FAA folgen.

Einige Analysten sind skeptisch, ob sich Muilenburg, der wegen seines Krisenmanagements in der Kritik steht, noch lange halten kann. Vereinzelt werden Rufe nach der Ablösung des CEO laut, weil ein weiteres Missmanagement der 737-Max-Affäre dem Unternehmen nachhaltig schaden könnte. Andere wiederum halten es für unangebracht, Muilenburg für die kulturellen Probleme abzustrafen, die sein Vorgänger zu verantworten habe. Der Ingenieur Muilenburg hatte den Topjob bei Boeing im Sommer 2015 von Jim McNerney übernommen, einem Harvard-BWLer, der den Konzern zehn Jahre geführt hatte. Apropos BWL: Ein Analyst meint, dass die "737 Max als Fallstudie für Missmanagement an der Harvard Business School" endet. (vbr)