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Breitband: Experten sehen EU schlecht aufgestellt für Führungsrolle bei 6G

Stefan Krempl

(Bild: tum3123/Shutterstock.com)

Erhebliche Verzögerungen bei der Frequenzvergabe gelten als Hauptgrund, der die EU im Aufholrennen beim Mobilfunk behindert. Auch im Festnetz hapert es.

Sachverständige aus der Informations- und Kommunikationsbranche zeichnen ein düsteres Bild, was den Ausbau mobiler und stationärer Breitbandnetze in der EU angeht. So ist etwa keiner der vom Dachverband DigitalEurope befragten Experten sehr zuversichtlich, dass Europa unter den derzeitigen Bedingungen im künftigen 6G-Rennen die Führung übernehmen wird. Die Hälfte ist nur etwas zuversichtlich, ein Viertel ist skeptisch.

DigitalEurope befragte für die Sondierung [1] 20 Experten aus Mitgliedsverbänden wie dem FTTH Council Europe und angeschlossenen Unternehmen wie Amazon, Cisco, Ericsson, Hewlett Packard Enterprise, Huawei und Meta. Obwohl die 6G-Forschung gerade erst begonnen hat, erwarten sie, dass die nächste Mobilfunkgeneration 6G bis zum Ende des Jahrzehnts Realität wird.

Die Brancheninsider drängen darauf, dass die EU bereits jetzt ambitionierte Ziele für die kommerzielle 6G-Einführung festlegt. Diese müsse durch eine weitverbreitete 5G-Akzeptanz und -Abdeckung untermauert werden. 50 Prozent der Teilnehmer schlagen weitere Maßnahmen vor, die Europa in Betracht ziehen sollte, um seine 6G-Aussichten zu verbessern. Dazu gehören die Förderung des europäischen Startup-Ökosystems, mehr Mittel für das Europäische Institut für Telekommunikationsnormen (ETSI) und andere Normungsgremien, um die 6G-Standardisierung voranzutreiben, und die Stärkung der europäischen Produktionskapazitäten, insbesondere bei Halbleitern.

Die EU-Kommission plädiert in ihrer 2020 präsentierten Industriestrategie beim 5G-Ausbau und auf dem Weg zu 6G [2] vor allen für eine "strategische europäische Partnerschaft" im Bereich Forschung, Entwicklung und Innovation. Die Mitgliedsstaaten sollen dabei ihre "Führung bei Netzwerktechnologien" wiedererlangen beziehungsweise verstärken. Europa muss demnach jetzt in mobile Netzwerke der nächsten Generation investieren, wenn es auf diesem Gebiet Spitzenreiter werden wolle.

Historisch habe Europa im Mobilfunk mit GSM und 3G (UMTS) geführt, erklärte Mikael Bäck aus der Geschäftsführung von Ericsson am Donnerstag bei der Präsentation der Ergebnisse. Mit 4G und 5G sei diese Position verloren gegangen. Dabei gehe es bei der aktuellen und künftigen Generation nicht mehr nur darum, Smartphones leistungsfähiger zu machen, sondern etwa um Konnektivität für vernetzte Autos und das Internet der Dinge. Grundsätzlich habe Europa bei 6G eine bessere Startposition als die Halbleiterindustrie, da hier "einige führende Unternehmen" ansässig seien.

Ericsson sei mit Nokia dabei, erste 6G-Nutzungsmodelle zu entwickeln. Es gehe etwa um "Netzwerke von Netzwerken" mit zahlreichen Sensoren, ließ Bäck durchblicken. Europa könne frühzeitig einsteigen. Er räumte aber ein: Es sei noch etwas früh für Szenarien für kommerzielle Anwendungen. Cristiano Radaelli vom italienischen IT-Verband Anitec-Assinform verwies hier und bei 5G auf ein "Kommunikationsproblem": Viele sähen die neuen Mobilfunktechnologien nur als normale Evolution mit mehr Bandbreite. Industrie und Politik müssten stärker deren "großen Vorteile" und die ermöglichten neuen Dienste betonen.

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Generell bezeichnen 69 Prozent der Befragten erhebliche Verzögerungen bei der Vergabe von Frequenzen als den Hauptfaktor, der die europäische Führungsrolle bei Mobilfunknetzen behindert. Obwohl die EU-Länder mit dem Europäischen Kodex für die elektronische Kommunikation bis Ende 2020 verpflichtet waren, Frequenzen in allen drei 5G-Pionierbändern – 700 MHz, 3,4-3,8 GHz und 26 GHz – zuzuweisen, hatten dies bis Januar nur sieben Mitgliedstaaten geschafft. In fünf Staaten hat sich in dieser Hinsicht noch gar nicht getan.

Ein Viertel der Teilnehmer erachtet die europäischen Ziele für die Festnetzanbindung mit Gigabit-Anschlüssen für alle Haushalte bis 2030 angesichts der verfügbaren Glasfasertechnologie für nicht ehrgeizig genug. Sogar 38 Prozent halten zudem die europäischen Mobilfunkziele für 2030 für teilweise oder völlig unangemessen. Sie sind der Ansicht, dass die EU sich auf klare 6G-Vorgaben konzentrieren sollte, anstatt nur bei 5G aufzuholen.

Mit dem Corona-Aufbauprogramm Next Generation EU sollen mindestens 20 Prozent des 723 Milliarden Euro schweren EU-Konjunkturpakets in die Digitalisierung fließen. Rita Wezenbeek, Konnektivitätschefin bei der Generaldirektion Kommunikationsnetze, Inhalte und Technologien der Kommission sprach von einer "beispiellosen" Summe. Laut den von den Mitgliedsstaaten vorgelegten nationalen Plänen gingen sogar 27 Prozent in den Digitalbereich. Italien habe beschlossen, 50 Prozent des Digitalbudgets für den Breitbandausbau auszugeben.

Die derzeit verfügbaren öffentlichen Mittel könnten zu den dringend erforderlichen Investitionen in Netze beitragen und Finanzierungslücken decken, sind sich die Experten einig. Die Gelder helfen auch, den Mittelfluss auf der Nachfrageseite in Bereichen wie industrielle Anwendungen, Energie, Gesundheitswesen, vernetzte Mobilität und öffentliche Sicherheit zu erleichtern. Die staatliche Finanzspritze werde jedoch nicht reichen, um die gesamte Investitionslandschaft in Europa zu verändern.

Laut den Sachverständigen sollte die EU die Telekommunikationsregulierung mit einem neuen Konnektivitätsgesetz radikal überarbeiten, um eine größere europäische Harmonisierung zu erreichen. Der einschlägige Kodex habe wenig dazu beigetragen, zumal 18 Staaten ihn noch nicht einmal national umgesetzt hätten. Die Regulierer dürften ferner nicht nur auf niedrige Verbraucherpreise setzen, sondern stärker auf die Dienstqualität, eine flächendeckende Versorgung, effiziente Frequenznutzung und Innovationskraft achten. Die öffentlichen Fördermittel müssten als Katalysator für private Investitionen wirken.

Die Kommission habe Vertragsverletzungsverfahren eingeleitet, um die säumigen Länder anzutreiben, betonte Wezenbeeck. Aktuell ergebe ein neuer Regulierungsrahmen daher keinen Sinn, auch wenn künftig vermutlich Nichtdiskriminierungsvorgaben wichtiger würden als festgesetzte Preise. Hochleistungsrechner, Quantencomputer, elektronische Identitäten und die Verwaltungsdigitalisierung vergrößerten zugleich die Nachfrage nach hohen Bandbreiten. Die Brüsseler Regierungsinstitution sei auch dafür, die Frequenzvergabe stärker zu harmonisieren. Im Kern sei das Funkspektrum aber Ländersache.

Wie der Netzausbau funktionieren könnte, erläuterte Radaelli aus italienischer Sicht. Die dortige Regierung wolle Gigabit für alle bis 2026 erreichen und stelle dafür 6 bis 7 Milliarden Euro zur Verfügung. Für einkommensschwache Haushalte und den Mittelstand gebe es Gigabit-Gutscheine. Finnland habe derweil eine 100-köpfige Expertengruppe für Breitband eingerichtet, machte der dortige Kommunikationsstaatsekretär Kari Anttila als einen Grund dafür aus, wieso das skandinavische Land zum "5G-Trendsetter" avanciert sei. Die Gruppe habe Richtlinien etwa für das Teilen von Infrastrukturen, Kooperationen und zur Kostenreduktion beim Leitungslegen aufgestellt.

(olb [4])


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[2] https://www.heise.de/news/Industriestrategie-EU-Kommission-nimmt-6G-ins-Visier-4645871.html
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