Fahndung mit Gesichtserkennung: Bricht die Regierung ihren Koalitionsvertrag?

Die Regierungskoalition lehnt biometrische Überwachung ab. Vielleicht gilt das aber nicht, wenn man es fünf Minuten später macht.

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Halbes Gesicht einer weißen Frau, darüber gelegt symbolische Rasterung

(Bild: Fractal Pictures/Shutterstock.com)

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Der Koalitionsvertrag der deutschen Regierungskoalition aus SPD, Grünen und FDP ist eigentlich deutlich: "Flächendeckende Videoüberwachung und den Einsatz von biometrischer Erfassung zu Überwachungszwecken lehnen wir ab". Das Recht auf Anonymität im öffentlichen Raum sei zu gewährleisten, eine "biometrische Erkennung" etwa von Gesichtern oder Bewegungsformen dort "europarechtlich auszuschließen". Doch wie weit diese Passage reicht, ist zwischen Bundesregierung, den Ampel-Bundestagsfraktionen und der Opposition heftig umstritten.

Aufhänger für die erneute Debatte sind die laufenden Verhandlungen über die geplante EU-Verordnung für Künstliche Intelligenz (KI). Die EU-Kommission hat mit ihrem ursprünglichen Vorschlag ein grundsätzliches Verbot "biometrischer Echtzeit-Fernidentifizierung im öffentlichen Raum" ins Spiel gebracht, obgleich mit diversen Ausnahmen. Die Kommission möchte automatisierte Gesichtserkennung etwa für die gezielte Suche nach potenziellen Verbrechensopfern oder vermissten Kindern, die Prävention eines unmittelbar drohenden Terroranschlags oder das Erkennen und Identifizieren von Personen, die "schwere Straftaten" begangen haben, erlauben.

Der EU-Rat, besetzt von Ministern jedes Mitgliedsstaates, forderte im Dezember, den Ausnahmekatalog zu erweitern, etwa um Identitätskontrollen durchführen zu können. Schon hier konnte die Bundesregierung also die Koalitionslinie nicht durchsetzen, auch wenn sie selbst von einer europarechtlichen Möglichkeit zu biometrischer Echtzeit-Fernidentifikation nicht Gebrauch machen will. Die Bundesministerien für Inneres und Justiz versicherten nun der ARD, sich bei den Beratungen in Brüssel für ein entsprechendes europarechtliches Verbot ausgesprochen zu haben. Gleichzeitig dürfe der Einsatz Künstlicher Intelligenz zur "retrograden biometrischen Identifizierung" nicht EU-weit ausgeschlossen werden. Solche Technik könnte beispielsweise helfen, Beweise zu überprüfen.

Nachträgliche biometrische Auswertung von Videomaterial etwa für Fahndungszwecke soll laut den beiden Ministerien also erlaubt bleiben. Dies stößt der digitalpolitischen Sprecherin der Linksfraktion, Anke Domscheit-Berg, übel auf. Sie sieht den Koalitionsvertrag falsch ausgelegt und fürchtet eine Art Vorratsdatenspeicherung: Künftig könnten große Veranstaltungen oder ausgesuchte öffentliche Plätze standardmäßig mit Videokameras aufgezeichnet werden und im Anschluss Analysen mit Gesichtserkennung erfolgen, "um Menschen zu identifizieren".

Im Ansatz wird dies schon heute in Deutschland praktiziert. Das Bundeskriminalamt (BKA) nutzt seit 2008 das Gesichtserkennungssystem GES. Die Zahl der damit durchgeführten Recherchen steigt seit Jahren rasant an. 2021 konnten die Beamten mit 90.000 Abfragen rund 5000 Personen identifizieren, nachdem sie die Ergebnisse des Systems händisch verifiziert hatten. Ohne diese Technik fehlten oft Ermittlungsansätze, betont die Polizeibehörde. Echtzeit-Identifizierung finde mit GES aber nicht statt. Besonders umkämpft war in den vergangenen Jahren die Suche der Hamburger Staatsmacht nach Randalierern beim G20-Gipfel per Gesichtserkennung.

Der Deutsche Anwaltverein (DAV) unterstützt ein breites Verbot biometrischer Echtzeit-Identifizierung auf EU-Ebene "uneingeschränkt" – ausdrücklich ausgedehnt auf nachträgliche Auswertungen. Das sei nötig, um die Grundrechte aller Bürger "umfassend vor der Bedrohung durch biometrische Massenüberwachung zu schützen", führt David Albrecht, Mitglied des Ausschusses Gefahrenabwehrrecht beim DAV, aus. Angesichts der Fehleranfälligkeit dieser Technologie und des potenziellen Missbrauchs in illiberalen Regimes dürfe es keine Ausnahmen bei der biometrischen Fernidentifikation geben. Auch viele andere zivilgesellschaftliche Organisationen sind für einen kompletten Bann.

Maximilian Funke-Kaiser, der digitalpolitische Sprecher der FDP-Fraktion, hat den Vorwurf zurückgewiesen, dass die Bundesregierung ein Foulspiel betreibe und den Koalitionsvertrag nicht einhalte: "Das Ding ist noch nicht ausverhandelt", sagte er zur ARD. Parsa Marvi, Berichterstatter der SPD-Fraktion, trägt den Ansatz aus der Ampel-Vereinbarung ebenfalls mit. Am Ende des Brüsseler Gesetzgebungsverfahrens stünden meist Kompromisse: "Und da wird es um Detailfragen gehen, und um diese Unterscheidbarkeit zwischen Echtzeit und retrograd." Domscheit-Berg sorgt sich weiter, dass es so zu einer Verordnung kommt, die die Tür zu biometrischer Massenüberwachung öffnet.

(ds)