Impfpflicht-Debatte: Hunderte Mordaufrufe auf Telegram seit November

Seit Mitte November gibt es laut einer ARD-Recherche täglich Tötungsaufrufe auf Telegram gegen Personen aus Politik, Wissenschaft, Medizin, Behörden und Medien.

In Pocket speichern vorlesen Druckansicht 397 Kommentare lesen

(Bild: Andrey_Popov/Shutterstock.com)

Lesezeit: 4 Min.

Die Polizei ermittelt gegen Nutzer des Messenger-Diensts Telegram, nachdem Todesdrohungen etwa gegen Ministerpräsidentin Manuela Schwesig (SPD) und ihren sächsischen Kollegen Michael Kretschmer (CDU) öffentlich geworden waren. Wie eine Recherche für tagesschau.de nahelegt, handelt es sich bei den Aufrufen zum Mord aber nicht um Einzelfälle. Seit Mitte November erfolgen demnach auf Telegram täglich Tötungsaufrufe gegen Personen aus Politik, Wissenschaft, Medizin, Behörden und Medien. Allein in den untersuchten Chaträumen stießen die Reporter auf über 250 davon.

Den öffentlich bekannten Persönlichkeiten werde häufig "ein Galgen, eine Guillotine oder ein Strick" gewünscht, hat die Auswertung geheimer und offener Telegram-Chatgruppen ergeben. "Kretschmer und seine Söldner gehören Hingerichtet wegen Hochverrat an das Volk!!", bringt die Tagesschau ein Beispiel in nicht ganz korrektem Deutsch. In einem anderen Chat habe ein Nutzer am 21. Dezember gefragt, ob er Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) "abknallen" dürfe. Ein Bundeswehrsoldat habe erklärt, er wolle Leichen über Felder verteilen.

Die Journalisten gehen davon aus, dass ihre Funde nur die Spitze des Eisbergs darstellen. Telegram lasse sich nicht komplett durchsuchen. Recherchieren könne man nur in den Kanälen und Chat-Gruppen, in denen man selbst Mitglied ist. Opfer "hemmungsloser Gewaltaufrufe" seien etwa auch Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD), Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) und sein Vorgänger Jens Spahn (CDU), Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) und der neue CDU-Chef Friedrich Merz.

Laut der Analyse haben die oft unter den mutmaßlichen Klarnamen verbreiteten Tötungsaufrufe seit Mitte November stark zugenommen, also parallel zum Auftakt der verstärkten Debatte über eine Impfpflicht im Kampf gegen die Coronavirus-Pandemie. Mehr als ein Drittel der Hasskommentare erfolge in zwei großen Telegram-Chaträumen, in denen sich Anhänger von Q-Anon, sogenannten Querdenkern und anderen Verschwörungserzählungen austauschten. Dort sei die Stimmung besonders aggressiv. Die "Soldaten & Reservisten"-Gruppe falle ebenfalls durch häufige Tötungsaufrufe auf.

Empfohlener redaktioneller Inhalt

Mit Ihrer Zustimmmung wird hier eine externe Umfrage (Opinary GmbH) geladen.

Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen (Opinary GmbH) übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung.

Im Fokus stehen dem Bericht nach neben Politikern und Ärzten etwa auch Wissenschaftsjournalisten, die sich fürs verbindliche Impfen aussprechen. Es gibt ferner Drohungen vor allem gegen die öffentlich-rechtlichen Sender und ihre Gebäude, die als "Propaganda-Läden" verunglimpft werden. Der Politikwissenschaftler Josef Holnburger vom Center für Monitoring, Analyse und Strategie (CeMas) warnte vor drohenden Gefahren: "Menschen mit einem verschwörungsideologischen Weltbild sind eher gewillt, Gewalt einzusetzen." Widerspruch gebe es in der Szene selten, "auch weil man das Bild einer einheitlichen Bewegung vermitteln will".

Der Deutsche Journalisten-Verband (DJV) forderte Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) auf, "hart und entschlossen gegen die Absender von Mord- und Gewaltaufrufen" auf Telegram vorzugehen. Journalisten erlebten "die Anfeindungen aus dem Lager von Impfgegnern und Coronaleugnern tagtäglich", betonte der DJV-Bundesvorsitzende Frank Überall. Die Mordaufrufe zeigten, dass der Hass auf Pressevertreter keine Grenzen mehr kenne. Faeser müsse ihrer Ankündigung, entschlossen gegen Extremismus vorzugehen, Taten folgen lassen.

Sachsens Innenminister Roland Wöller (CDU) zeigte sich auf Twitter angesichts zunehmender Radikalisierungen über Messenger-Dienste "entsetzt", dass Bundesjustizminister Buschmann die Auffassung vertrete, man brauche keine neuen Gesetze und müsse nur die bestehenden anwenden.

Der Liberale hatte zuvor erklärt, dass Telegram seiner Ansicht nach unter das von der großen Koalition vorangetriebene Netzwerkdurchsetzungsgesetz (NetzDG) falle und hierzulande offensichtlich strafbare Inhalte binnen 24 Stunden löschen müsse. Er plädierte dafür, mit dem geplanten Digital Services Act (DSA) einen gemeinsamen europäischen Rechtsrahmen gegen Hass und Hetze zu schaffen. Seit Mitte Dezember fordern hiesige Politiker ein schärferes Vorgehen gegen strafbare Inhalte auf Telegram. Eine Regulierung des weitgehend unkooperativen, offiziell in Dubai sitzenden Dienstes ist aber nicht einfach, da einschlägige Maßnahmen mit massiven Kollateralschäden verknüpft sein dürften.^

(jk)