Jean-Michel Jarre: "Die Stereoanlage ist das Grammophon von morgen"

Der französische Musiker ist ein Vorreiter für 3D-Audio. Mit c't spricht er über die Technik und Produktion und warum er ein Monopol von Dolby Atmos ablehnt.

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(Bild: Hartmut Gieselmann)

Lesezeit: 12 Min.

Auch mit 75 Jahren treibt Jean-Michel Jarre die technologische Entwicklung der Musik voran. In seiner Jugend studierte er in den 1960er Jahren bei Pionieren der elektronischen Musik wie Pierre Schaeffer. Kürzlich veröffentlichte er sein Album Oxymore, das nicht nur die neueste Produktionstechnik für 3D-Audio verwendet, sondern bereits in der Konzeptionsphase für 3D arrangiert wurde.

Just haben Musiker wie Martin Gore von Depeche Mode, Brian Eno und junge Elektronikkünstler einige Oxymore-Stücke auf Oxymoreworks überarbeitet. Während er in Berlin war, haben wir mit Jean-Michel Jarre per Videochat auf Englisch gesprochen und das Interview anschließend übersetzt.

c't: Das neue Album enthält Bearbeitungen von fünf Oxymore-Songs. Einige Titel heißen zum Beispiel "Take Two". Gibt es weitere Remixe von anderen Oxymore-Songs oder andere Takes, die noch nicht veröffentlicht wurden?

Jean-Michel Jarre: Oxymore war eine Hommage an Pierre Henry, den französischen Pionier der elektroakustischen Musik. Sie entstand in Kontinentaleuropa nach dem Krieg in den späten 1940er Jahren. In Frankreich gehörte auch Pierre Schaeffer dazu. Davor gab es Luigi Russolo, der 1910 "The Art of Noise" schrieb, und Leon Theremin in den 20er Jahren.

Ich hatte lange vor, mit Pierre Henry zu arbeiten. Aber dann wurde er krank und starb, und es kam nie dazu. Er hat mir einige Klänge hinterlassen. Als ich anfing, über Oxymore nachzudenken, habe ich einige dieser Sounds integriert, nicht viel – vielleicht 5 Prozent des Albums. Sie waren eine große Quelle der Inspiration.

Ich dachte, es wäre interessant, die Aufnahmen an einige Künstler weiterzugeben, damit sie das Album überarbeiten. Es ist kein Remix-Album, sondern ein Rework-Prozess.

Oxymoreworks enthält 9 Überarbeitungen aus dem jüngsten Album Oxymore von Jean-Michel Jarre. Mit dabei waren unter anderem Martin Gore, Brian Eno, Armin van Buuren, Nina Kraviz und Irene Dresel.

(Bild: Sony Music Entertainment Germany GmbH)

c't: Wie haben Sie die Remixe für das Album ausgewählt? Wird es später noch mehr geben?

Jarre: Möglicherweise. Heutzutage gibt es keine Regeln mehr für Veröffentlichungen. Man kann morgen einen Track veröffentlichen und in einem halben Jahr einen anderen, wenn man will.

Ich habe mit Martin Gore angefangen. Er macht ziemlich experimentelle, raue, brutale Projekte abseits von Depeche Mode. Mein Song Brutalism hat eine präapokalyptische Stimmung. Als ich ihn vorschlug, sagte er: "Ja, okay, ich liebe den Track", und es hat einfach funktioniert. Ich mag diese dunkle Seite, die wir manchmal haben können.

Für Brian Eno hatte ich ein Ambient-Projekt im Sinn. Brian nahm die Drums und Beats zurück und schuf eine rhythmische Variation, die mir wirklich gefiel. Für dieses Projekt habe ich junge Künstler eingeladen, einige aufstrebende französische Künstler. Für mich ist es die Fortsetzung von Oxymore.

Ich bin mir sicher, dass einige Fans verunsichert sein werden, weil es ziemlich weit von Oxygen und Equinox entfernt ist. Aber das macht ja gerade den Reiz aus, sich als Künstler nicht zu wiederholen.

c't: Die Originaltracks von Oxymore sind in 3D komponiert und arrangiert. Haben die Remixer auch in 3D-Audio gearbeitet? Gerade bei Apple Music ist das ja in Mode, viele DJs veröffentlichen Tracks in Dolby Atmos.

Jarre: Die Remixe sind in Stereo. Meistens mischen und produzieren die Leute in Stereo und remixen dann eine räumliche Version davon. Das ergibt einen immersiven Sound. Aber das ist nicht dasselbe wie echter Raumklang. Den bekommt man nur, wenn man es von Grund auf in 3D entwirft, wie ich es bei Oxymore gemacht habe. Es ist ein bisschen so, als ob man für ein Quartett komponiert und dann plötzlich die Musik des Quartetts für ein Symphonieorchester anpasst. Es ist nicht dasselbe, wie Musik direkt für ein Orchester zu schreiben.

c't: Immer mehr digitale Audioworkstations für die Musikproduktion unterstützen Dolby Atmos. Nach Logic, Cubase und Pro Tools ist das jüngste Beispiel Studio One. Sehen Sie darin eine Art Demokratisierung der 3D-Audioproduktion, dass jetzt jeder Musiker in 3D produzieren kann? Oder braucht man nach wie vor viele Abhörmonitore um sich herum im Studio und kann nicht einfach über Kopfhörer und Virtualisierung am Laptop mischen?

Jarre: In zehn Jahren werden wir auf die Stereoanlage mit der gleichen Nostalgie zurückblicken wie auf das Grammophon unserer Großeltern.

Ich glaube, dass 3D-Audio eine völlig neue Ausdrucksform ist. Jahrzehnte, ja Jahrhunderte hatten wir eine frontale Beziehung zur Musik. Wenn man für ein Orchester komponiert, sieht man das Orchester vor sich, die Violinen auf der linken Seite, das Schlagzeug in der Mitte und die Holzbläser auf der rechten Seite. Und im Studio hat man zwei Lautsprecher vor sich. Bei einem Festival oder Konzert hat man die Beschallungsanlage vor sich. Es ist also so ähnlich wie bei einem Maler, der vor seiner Leinwand steht.

Bei 3D ist der Hauptunterschied, dass man sich als Komponist in die Musik hineinversetzen und dieses Gefühl mit dem Publikum teilen kann. Natürlich müssen wir dafür sorgen, dass sich die Technologie in drei verschiedene Richtungen entwickelt: Das eine ist die 3D-Wiedergabe über ganz normale Stereokopfhörer. Zweitens kann man 5.1-Systeme sowohl zu Hause als auch im Auto haben. Das Auto wird mehr denn je zu einer Art Taschenauditorium für den Nutzer. Drittens gibt es diesen Hyper-Realismus, den zum Beispiel Soundbars mit ihrem 3D-Sound unter dem Fernseher erzeugen.

Man kann also das, was man im Studio in 3D abgemischt hat, in verschiedene Surround-Immersionssysteme umwandeln. So kann man als Künstler sein Publikum sehr direkt und einfach erreichen. Ich denke, das wird in den nächsten Monaten und Jahren immer mehr der Fall sein.

Neben Weltstars lud Jean-Michel Jarre auch junge Elektromusiker wie NSDOS ein, der in seinem Studio mit analoger Synthesizertechnik experimentiert.

(Bild: NSDOS)

c't: Wie gehen Studiobetreiber mit den Anforderungen an Ausstattung und Raumakustik um, wenn sie von Stereo- auf 3D-Produktionen umsteigen?

Jarre: Ich denke, dass viele Tonstudios bereits über eine Art 5.1-Anlage verfügen, und wenn nicht, kann man das sehr einfach nachrüsten. Auch mit einer 5.1-Anlage kann man ein Musikstück in 3D konzipieren, weil man am Anfang sowieso mit Phantomlautsprechern arbeitet. Schon in 5.1 oder 7.1 bekommt man gute Ergebnisse. Ideal wäre natürlich eine echte 3D-Installation, aber das werden wir erreichen.

Es ist das Gleiche wie damals bei der Umstellung der Studios von Mono auf Stereo. Man muss investieren, aber ich denke, es wird passieren. Wenn das Geschäft da ist, wird die Technologie folgen.

c't: Kristallisiert sich Dolby Atmos als dominierendes 3D-Format heraus oder gibt es Alternativen?

Jarre: Fraunhofer hat mit 360 Reality Audio (360RA) eine ernst zu nehmende Alternative zu Dolby Atmos entwickelt. Das ist das beste 3D-Format der Welt. Sony hat das System aufgegriffen und binaurale Filter für die Wiedergabe über Stereokopfhörer entwickelt, die aber nicht sehr überzeugend sind.

Als Europäer würde ich das Fraunhofer-System vorantreiben, weil wir es brauchen. Ich habe viele Freunde bei Dolby und sie haben ein hervorragendes System. Aber ich denke, dass man einen gesunden Wettbewerb haben sollte, wie in jedem anderen Bereich auch.

Dolby hat Atmos fürs Kino entwickelt. Man muss zwischen einem heliozentrischen und einem egozentrischen System unterscheiden. Beim heliozentrischen System im Kino muss, egal wo man sitzt, der Dialog von vorne kommen, die Hauptinformation von links und rechts, die Effekte von hinten.

Für Musik brauchen wir dagegen ein egozentrisches System: Jede Richtung ist gleichberechtigt. Das ist mit Dolby Atmos sehr schwer zu erreichen. Dolby arbeitet an einem Atmos-System, das die Musik besser unterstützt. Aber ich hoffe, dass wir hier eine europäische Alternative schaffen können.

c't: Wie beurteilen Sie die aktuelle Entwicklung der Verbreitung von 3D-Audio? Spotify bietet gar kein 3D-Audio an. Apple setzt auf Atmos. Amazon und Tidal bieten einige Alben auch in 360RA an.

Jarre: Momentan wird 3D-Audio für Stereokopfhörer als binauraler Stream ausgegeben. AV-Receiver hingegen erhalten einen 3D-Stream mit zusätzlichen Daten, die sie dann dekodieren. Technisch ist das einfach. Spotify ist daran nicht interessiert, weil sie darin kein Geschäft sehen. Für sie wäre es einfacher, wenn sie in Mono streamen könnten.

c't: Können physische Tonträger bei 3D-Audio mit Streaming-Angeboten mithalten?

Jarre: Ich habe das vor 15 Jahren mit AERO gemacht. Das war das erste Album, das in 5.1 für die Blu-ray Disc konzipiert wurde. Damals war die Blu-ray Disc viel weiter verbreitet als heute.

Heute kann man ein Album auf Blu-ray Disc veröffentlichen, aber es ist eine Nische. Es gibt nur wenige Leute, die Blu-ray Disc benutzen, und es werden jedes Jahr weniger. Man muss also einen Weg finden, die Leute zu erreichen. Damit sie Oxymore als binauralen Mix für Stereokopfhörer hören können, bekommen sie einen QR-Code mit der LP oder CD und können die Dateien herunterladen.

Für eine Blu-ray hätte ich zusätzliche Bilder und Videos gebraucht. Aber die Idee von Oxymore ist es, die Augen zu schließen und sich wieder auf das zu besinnen, worum es bei der Musik eigentlich geht. Bei meinen Konzerten hörten die Leute den 3D-Sound aus 16 Lautsprechern. Zu Beginn der Konzerte sagte ich: "Es gibt nichts zu filmen. Ihr könnt den Akku eures Smartphones schonen. Schließt die Augen, dann kommen die Bilder."

Im kommenden Jahr plant Jean-Michel Jarre weitere Projekte, die neben 3D-Audio auch Augmented und Virtual Reality einbinden sollen.

(Bild: Francois Rousseau)

c't: An welchen Schrauben würden Sie als Nächstes drehen – sowohl im technischen Produktions- und Distributionsprozess als auch im künstlerischen Prozess, um 3D-Audio einer breiteren Masse zugänglich zu machen?

Jarre: Die Antwort liegt in der Entwicklung der VR- und AR-Technologie. Ich glaube, es wird eine enorme Entwicklung geben in Richtung immersive Welten, VR-Welten und AR-Technologie. Es wird neue Ausdrucksformen in VR und AR geben. Auch der Sound wird sich meiner Meinung nach weiterentwickeln. Genauso wie die visuelle Technologie müssen wir auch die auditive Technologie weiterentwickeln.

Es überrascht mich immer wieder, dass, wenn wir über Immersion sprechen, alle über das Visuelle reden und niemand über den Sound. Dabei ist das Hören der erste Sinn, der für Immersion empfänglich ist. Es sind nicht die Augen. Unser Gesichtsfeld beträgt 140 Grad, das Hörfeld 360 Grad.

Es gibt ein riesiges Potenzial für Musiker und Ingenieure, Tontechniker und Toningenieure zur Entwicklung moderner Ausdrucksformen in VR, AR oder auch hybriden Shows.

Ich arbeite an vielen verschiedenen Projekten mit VR und AR und räumlichem Audio für das kommende Jahr. Es ist aber noch etwas früh, darüber detailliert zu sprechen. Ich denke, dass junge Musiker das große Glück haben, in dieser Zeit zu leben, denn technische und technologische Umwälzungen sind immer sehr aufregend, weil sie ein bisschen Chaos verursachen, und Künstler lieben Chaos.

Update 22:50 Uhr: Die Download-Dateien zum Oxymore-Album (LP, CD) liegen binaural für die Wiedergabe mit Stereo-Kopfhörern vor, nicht in 5.1, wie zunächst geschrieben. Die binauralen Dateien lassen sich mit jedem Stereo-Player abspielen. Diese binaurale Version ist auch über Spotify erhältlich. Die Atmos-Version des Albums ist nur als Stream über Apple Music, Amazon und Tidal erhältlich.

(hag)