Missing Link: Der Alptraum der digitalen Demokratie - das "Betriebssystem" der 5 Sterne

Seite 2: Ein "Betriebssystem" für Mitbestimmung

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Die aktuelle Iteration des "sistema operativo", des "Betriebssystems", ist seit dem Frühjahr 2016 online und heißt nicht ohne Grund wie der Genfer Philosoph und Demokratietheoretiker Jean-Jacques Rousseau. Denn der M5S versteht sich als vollständig basisdemokratisch. Wer sich auf der Plattform anmeldet und mit einer Ausweiskopie verifiziert, ist automatisch Mitglied der Bewegung und bekommt Zugriff auf ihre umfassenden digitalen Mitbestimmungsmöglichkeiten. Mitglieder können dort über die Zusammensetzung von Wahllisten entscheiden, jeder der Eingeschriebenen, der "iscritti", soll nur mit Lebenslauf, Führungszeugnis und Videobotschaft ins Rennen gehen können. Auch Programmfragen, Gesetzesintiviativen und Positionen der Abgeordneten auf nationaler und europäischer Ebene stehen regelmäßig zur Diskussion und Abstimmung. Wählen kann jedoch nur, wer bereits sechs Monate angemeldet ist.

In einem weiteren Bereich names "Lex Iscritti" sind die Nutzer dazu aufgefordert, eigene Gesetzesvorschläge einzubringen und sie hochzuvoten. Die M5S-Parlamentsabgeordneten versprechen, die Vorschläge mit den meisten Stimmen zu prüfen und tatsächlich im zuständigen Gremium einzureichen – so lange sie nicht gegen Parteiprogramm oder Verfassung verstoßen. Dazu kommen Bereiche wie "Activism", "Call to Action" oder "Scudo della Rete" ("Schutzschild des Netzes"), wo sich Parteiaktivisten eine Online-Rechtsberatung holen können.

(Bild: Screenshot rousseau.movimento5stelle.it)

Die Einflussmöglichkeiten der "iscritti" auf die Partei und damit auch auf die italienische Politik scheinen also erheblich zu sein – erst recht seit 2018, dem Jahr der ersten Regierungsbeteiligung des M5S. Sogar europaweit brisante Fragen werden inzwischen auf Rousseau entschieden: Als im Februar 2019 eine mögliche Anklage von Lega-Innenminister Matteo Salvini wegen seiner Blockade von Flüchtlings-Rettungsschiffen im Mittelmeer zur Debatte stand, lieferten die M5S-Senatoren die entscheidenden Stimmen gegen die Aufhebung seiner Immunität, nachdem sich die Mehrheit auf Rousseau für diese Linie ausgesprochen hatte.

Geht es nach der Parteiführung und ihrer Anti-Establishment-Ideologie, sollen die Abgeordneden der Bewegung also reine Befehlsempfänger der Basis sein und sich so klar von einer "Kaste" von Profipolitikern der anderen Parteien abheben – obwohl sie damit die italienische Verfassung ignorieren, die die Mandatsfreiheit der Parlamentarier festschreibt.

Tatsächlich gibt es aber auch eine zweite Erzählung über die "Cinque Stelle", nämlich die einer äußerst autoritär geführten, fast sektenartigen Gruppierung. Den Parteigründer Grillo porträtierte das Schweizer Magazin Republik Anfang 2018 als "digitalen Diktator" und listete eine lange Reihe von Fällen auf, in denen Abweichler mittels Cybermobbing, digitalen Tribunalen oder schlicht Löschung ihrer Accounts aus der Bewegung geworfen wurden. Auch mit dem Antritt von Luigi Di Maio als neuem Parteichef im Herbst 2017 verschwanden solche Fälle nie vollständig und beschäftigen regelmäßig die italienischen Medien.

Alles, was auf Rousseau geschieht, unterstand dabei schon immer der Kontrolle der Parteiführung. Auch wenn die Partei es niemals öffentlich zugegeben hat, so deuten Berichte von ehemaligen Casaleggio-Mitarbeitern und journalistische Aufarbeitungen wie der Dokumentarfilm "The Choice" stark darauf hin, dass das Stimmverhalten der Mitglieder nie geheim war, sondern stets von der Parteiführung in der Datenbank aufgezeichnet und ausgewertet wurde. Ein Digitalaktivist aus dem Umfeld der italienischen Piratenpartei vermutet gegenüber heise online sogar, dass die direktdemokratischen Ansprüche der Bewegung "reine Werbung ohne wirklichen politischen Wert" seien. "Rousseau dient praktisch zu nichts anderem, als die herrschende Klasse des M5S unverantwortlich zu machen", ist er sich sicher. Echte Mitbestimmung suche man dort vergeblich.

Die Parteiführung ist es auch, die alleine über die verfügbaren Mitbestimmungswege und die Fragestellungen der Referenden bestimmt. Der Politiksoziologe Gerbaudo berichtet von vereinzelten Versuchen von Parteiaktivisten, mit LiquidFeedback ein alternatives Open-Source-System für Mitbestimmungsverfahren vorzuschlagen, das aus dem Umfeld der Piratenparteien stammt. "Es gab begrenzten internen Protest und Diskussionen", erzählt er. Doch diese Versuche seien im Keim erstickt worden. Und bisher taten die Mitglieder bis auf zwei Fälle nie etwas anderes, als die vorgegebene Linie der Parteichefs zu bestätigen, meist mit Zustimmungsraten von weit über 80 Prozent.

So drastisch wie der langjährige Digitalaktivist äußern sich Forscher, die die Bewegung schon seit Jahren beobachten, zwar nicht. Doch auch Paolo Gerbaudo ist sich sicher, dass sich im M5S die Macht an der Spitze der Hierarchie konzentriert, ohne dass die Partei dies offen zugibt. Vater und Sohn Casaleggio seien mit ihrer Firma schon immer ein "Rückgrat" der gesamten Bewegung gewesen, doch die verhalte sich bei der Verwaltung der IT-Systeme der Partei geradezu "unprofessionell", erläutert Gerbaudo: "Sie halten sich nicht für eine Softwarefirma, sie kommen eigentlich nur aus der Marketingbranche."

Weder Casaleggio noch die Partei haben zwar jemals Details über den Quellcode ihres Systems veröffentlicht, doch selbst die wenigen gesicherten Informationen legen nahe, dass Gewissenhaftigkeit in Sachen Sicherheit und Datenschutz im Hause Rousseau tatsächlich lange Zeit Mangelware war – auch wenn die aktuelle Version nach außen durchaus modern designt wirkt. Als im August 2017 ein Relaunch der Plattform online geht, dauert es kaum 24 Stunden, bis ein findiger Mathematikstudent auf eine SQL-Injection stößt, mit der er in die Datenbank der Plattform eindringen kann. Durch Zufall, wie er später beteuert. Er warnt die Betreiber, bekommt zum Dank allerdings nur eine Anzeige. Führende M5S-Politiker mutmaßen, er sei von politischen Gegnern beauftragt worden, der Internetmob der Parteianhänger überschüttet ihn mit Drohungen.

Seinem Beispiel folgt jedoch schnell ein zweiter Hacker unter dem Pseudonym "R0uge_0", der aus weniger hehren Motiven agiert und dessen Umtriebe bis heute auf Twitter dokumentiert sind. Er verschafft sich innerhalb weniger Tage Adminrechte und leakt Teile der Mitgliederdatenbank inklusive im Klartext gespeicherter Passwörter für Rousseau und verschiedene Parteiblogs. Wenige Wochen später, bei der Wahl von Luigi Di Maio zum neuen Parteivorsitzenden, schafft er es nach eigenen Angaben, mithilfe zahlreicher gekaperter Accounts mehrfach abzustimmen.

An diesem Punkt schaltet sich zum ersten Mal der "Garante della Privacy", die oberste italienische Datenschutzbehörde, in den Fall ein und nimmt Ermittlungen gegen Rousseau auf. Mehrere Fristverlängerungen und zwei Ortsbesuche der Ermittler wird es im Laufe der folgenden zwei Jahre brauchen, bis ein Ergebnis vorliegt, doch die massiven Probleme der Plattform sind von Anfang an offensichtlich. Und der Hacker bleibt nicht untätig, denn es tun sich immer wieder neue Lücken auf. Im Februar 2018 schafft er es erneut ins Content-Management-System des "Blog delle Stelle" und veröffentlicht unter dem Namen von Davide Casaleggio im internen Bereich der Seite dessen persönliche Daten bis hin zu seiner Steuernummer. Auch ein halbes Jahr später veröffentlicht "R0uge_0", immer noch unter demselben Twitterprofil, erneut persönliche Daten von führenden M5S-Politikern.