Missing Link: Hongkong-Proteste – mit Low-Tech gegen digitale Massenüberwachung

Seite 2: Einsatz von Triaden erinnert an ukrainische "Tituschki"

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Ein weiteres einschneidendes Ereignis war im Juli eine brutale Attacke einer weißgekleideten Gang mit Holz- und Schlagstöcken auf Demonstranten in Schwarz sowie Passanten in der U-Bahnstation Yuen Long. Rund 45 Minuten dauerte es, bis sich am Ort der Schlacht auch die Polizei blicken ließ. Bei den Rowdys soll es sich um Mitglieder der chinesischen Mafia in Form der sogenannten Triaden gehandelt haben. Die Hongkonger Regierung und die Polizei leugnen, dass es bei den Gangstern Verbindungen nach Peking gibt. Beobachter fühlen sich aber an die ukrainischen "Tituschki" erinnert: kräftige junge Männer in Sportanzügen, die während der Maidan-Aufstände auf Seiten des Ex-Präsidenten Viktor Janukowitsch gegen oppositionelle Demonstranten kämpften. Der einzige Unterschied sei, dass in der südostasiatischen 7,4-Millionen-Stadt bisher nicht scharf auf die protestierende Menge geschossen worden sei.

Die Widerstandsbewegung in Hongkong hat aus dem blutigen Zwischenfall gelernt. Sie versucht seitdem, frei nach dem Motto "Be water, my friend" des Kampfkünstlers Bruce Lee möglichst wie Wasser zu fließen und sich nur halbwegs spontan zu größeren öffentlichen Zusammenkünften zu verbinden. Bei den entsprechenden Treffen des "schwarzen Blocks" kann es sich dann auch mal um den Stadtteil North Point auf Hongkong Island handeln, wo viele Triadenmitglieder wohnen. So geschehen etwa am 5. August, als es prompt zu versuchten Übergriffen der Clans auf die Demonstranten kam. Die waren aber diesmal vorbereitet und in der Überzahl, sodass die Anläufe der Gegner an ihnen abperlten. "Zufällig" war auch die Ausfahrt eines nahen Polizeireviers verrammelt, sodass die Ordnungshüter sich nicht mehr oder weniger offen auf die Seite der organisierten Kriminellen schlagen konnten.

Der Leitspruch des fließenden Wassers gilt generell für die Bemühungen breiter Teile der Protestbewegung, möglichst dezentral, weitgehend ohne bekannte Führerfiguren und anonym zu agieren. Das ist kein Leichtes in einer Metropole, in der die Verwaltung und die Obrigkeit auch jenseits von Videoüberwachung und Gesichtserkennung kaum eine Gelegenheit auslässt, um Daten über die Bevölkerung zu sammeln. Hongkong sieht sich zunehmend als "Smart City", wobei "intelligent" häufig mit Big-Data-Anwendungen gleichzusetzen ist.

Parallel hat Peking spätestens nach dem Tiananmen-Massaker einen Bespitzelungs- und Zensurapparat aufgebaut, der seinesgleichen sucht und immer weiter in die autonome Region im Süden hineinzuragen droht. Dabei geht es vor allem um "präventive Sicherheit" just mit dem Ziel, die Bildung kritischer Netzwerke und Zirkel von vornherein so zeitnah wie möglich zu unterbinden. Bürger sollen damit davon abgeschreckt werden, auch nur mit dem Gedanken zu spielen, an potenziellen Demonstrationen teilzunehmen.

Teil des Überwachungsnetzes in der an sich eigenständigen Metropole sind neben Bewegungsdaten aus dem Mobilfunk, die Demonstranten mit Einmal-SIM-Karten zu vermeiden suchen, auch die mit der staatlichen Octopus Card verknüpften Informationen. Dabei handelt es sich um eine Bezahlkarte für den Öffentlichen Personennahverkehr, die zwar den Kauf einzelner Fahrscheine erübrigt, aber auch den gläsernen Passagier mit sich bringt. Möglichst mit Bargeld statt mit chinesischen Apps wie Alipay oder WeChat bezahlte Tickets sind daher bei Systemkritikern wieder en vogue. Digitale Bezahlanwendungen made in China sind diesen eh ein Dorn im Auge, da sie ein besonders datenhungriges soziales Kreditbewertungssystem ("Social Credit") auf Basis von Scoring-Verfahren anfüttern.

Um möglichst unauffällig und unbemerkt zu kommunizieren und sich zu koordinieren nutzen die Hongkonger Protestler so zumindest verschlüsselte Chat-Apps wie Telegram, auch wenn dieser Dienst nicht ganz wasserdicht ist. Schon im Juni meldete Telegram auch eine massive DDoS-Attacke gegen seine Server, die laut dem Chef des Anbieters, Pavel Durow, ihren Ursprung auf dem chinesischen Festland hatte und staatlich unterstützt gewesen sei. Seit diesem Cyberangriff setzen viele Demonstranten gleich auf den Peer-to-Peer-Instant-Messenger Briar. Der ist zwar schwieriger zu installieren und zu bedienen als WhatsApp & Co., kommt dafür aber ohne leicht auszuschaltende zentrale Server aus und ist kaum auf externe Infrastruktur angewiesen. Verbindungen werden per Bluetooth, WLAN oder über das Internet mit dem Anonymisierungsdienst Tor hergestellt, was beim Vermeiden digitaler Spuren zusätzlich hilft.

Seit die Behörden schon bei der Protestwelle in der zweiten Jahreshälfte 2014 mehrfach das Handynetz abschalteten, um die mobile Kommunikation zwischen Anhängern des Regenschirm-Aufstands zu stoppen, ist auch Firechat in der Bewegung beliebt. Dabei handelt es sich um eine Mesh-App, die zeitweise ohne Internet- oder Telefonverbindung auskommt. Geräte, auf denen das Programm installiert ist, stellen dafür via Bluetooth, WLAN oder Multipeer Connectivity von Apple ein dezentrales Netzwerk her, über das Nachrichten übermittelt werden.

Sonst bauen vor allem jüngere Systemkritiker auf den kreativen Einsatz gängiger Apps und Datendienste, um sich auszutauschen, Treffen zu organisieren oder Mitstreiter anzuwerben. Apples Filesharing-Angebot AirDrop dient ihnen etwa dazu, um die moderne Form von Flugblättern hinter die "feindlichen Linien" zu bringen, also Touristen vom Festland in einfachem Chinesisch Informationen über die Lage in Hongkong zu vermitteln und die Zensur zu umgehen. Auch bei diesem Dienst macht sich bewährt, dass er ohne zentralen Server auskommt und bei der Kommunikationsanbahnung via Bluetooth gerade an stark frequentierten Verkehrspunkten viele potenzielle empfangsbereite Gegenüber findet.

"Die Freiheit ist nicht gottgegeben, sie wird von den Menschen erkämpft", stand so auf einem per AirDrop etwa auf U-Bahnhöfen verbreiteten digitalen Sticker. Die Autoren eines anderen Dokuments wandten sich gegen die Behauptung Pekings, dass "ausländische Kräfte" hinter den Protesten stünden. Zugleich erläuterten sie, wie Chinas autoritäres System zum Tiananmen-Blutvergießen führte.

Gerne nutzen die Demonstranten auch die Videospiel-Plattformen Twitch oder Pokemon Go, um sich etwa trotz Verboten unverfänglich im öffentlichen Raum zu versammeln. Einige haben mittlerweile sogar die Dating-App Tinder zweckentfremdet, um über dortige Suchprofile zur Teilnahme an Kundgebungen aufzurufen oder Sicherheitstipps auszutauschen. Der hiesige Boulevard hat daher bereits die südostasiatische "Tinder-Revolution" ausgerufen, dank der die Staatsgewalt ausgetrickst wird.