Moralphilosoph Sandel: Autonome Autos und digitale Klone erfordern tiefgreifende Datenschutzdebatte

Privatsphäre muss im vernetzten Zeitalter mehr sein als "in Ruhe gelassen zu werden", konstatierte der US-Denker Michael Sandel in Berlin. Auch smarten Maschinen müsse der Mensch sagen, wie sie funktionieren sollten.

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Michael Sandel

Michael Sandel

(Bild: Stefan Krempl)

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"Unheimlich" findet Michael Sandel, Professor für Politische Philosophie an der Harvard-Universität, viele Entwicklungen in der schönen neuen Digitalwelt. So findet er es etwa unheimlich, wenn sich sein Sohn in Boston per App Essen aus einem Restaurant ins Haus liefern lässt und ein Freund von ihm in Kalifornien weiß, was er bestellt hat. Sein Sprössling sehe dies aber schon ganz anders.

"Erörterungen der Umstände der Privatheit in der digitalen Welt enden in der Regel mit tiefen philosophischen Fragen über die menschliche Freiheit", konstatierte Sandel anhand dieses und weiterer Beispiele ethischer Dilemmata von Nutzern am Dienstag im Telefónica-Basecamp in Berlin.

So findet Sandel etwa Experimente von Firmen mit Avataren in Form digitaler Klone gruselig. Diese würden über ein ganzes Leben hinweg "Informationen über uns aus unseren Tweets, Facebook-Postings, E-Mails oder Fotos sammeln" und "unsere gebündelte digitale Präsenz" als Big-Data-Schatten über den Tod hinaus verwalten und fortführen. Diese Algorithmen könnten dabei anhand des angehäuften Datenbestands schier genauso, wie man es selbst tun würde, in Chats antworten.

"Die Definition der Privatsphäre ist komplizierter als 'in Ruhe gelassen zu werden'", erinnerte er an den einstigen US-Bundesrichter Louis Brandeis, der Ende des 19. Jahrhunderts mit dieser Beschreibung erstmals ein ausdrückliches Recht auf Privatheit deklarierte. Auslöser sei damals die neue Technik der "Sofort-Kamera" gewesen, mit der man Menschen ablichten konnte, ohne dass diese gezielt einige Zeit lang posieren mussten.

Das Internet, die Digitalisierung, der Datenreichtum und die Künstliche Intelligenz müssen laut dem Forscher mit einem erweiterten Verständnis der Privatsphäre einhergehen. Wie dieses aussehen sollte, kann er selbst noch nicht genau bestimmen. Für ihn steht aber fest: "Wie klug die Maschinen auch immer werden, sie können uns nicht sagen, wie sie funktionieren, wie sie sich verhalten sollen." Dies zu umreißen und zu programmieren, "ist unsere Aufgabe als demokratische Bürger". Basis müsse ein umfassender öffentlicher, ein tiefgehender und ein "besserer, facettenreicherer Diskurs" sein, als er bisher geführt werde.

Wer würde Informationen einer Fitness-App, die den Puls, die gelaufenen Schritte oder die Essenszufuhr messe, auch der Krankenkasse schicken, die daraufhin eventuell einen Rabatt gewähre, fragte der Oxford-Absolvent das Auditorium. Oder wie stehe es mit dem Transfer von Daten über das gesamte aufgezeichnete Fahrverhalten und zurückgelegte Strecken an die Autoversicherung im Gegenzug für einen günstigeren Tarif? Beim deutschen Auditorium konnte Sandel gleich ein "Muster" ausmachen, wonach dieses derlei faustischen Pakten überwiegend skeptisch gegenübersteht.

Mit zielgerichteter Werbung wie bei Gmail, wo laut Google allein ein Computersystem die E-Post liest, oder auf "smarten" Reklametafeln, die in Kooperation mit Telekommunikationsfirmen demographische Daten und Profile auslesen, können sich viele im Publikum ebenfalls nicht anfreunden.

Noch mehr führte Sandel die Zuhörer in die Bredouille mit dem Beispiel des selbstfahrenden Autos, das in einem Unfallszenario entweder fünf Fußgänger nebst Baby oder den Passagier an der unüberwindbaren Betonmauer töten könnte. Wer würde ein autonomes Fahrzeug kaufen, dessen Algorithmus offen liege und darauf ausgerichtet sei, im Zweifelsfall eher den Insassen im Stich zu lassen? Ein Ingenieur ebensolcher Vehikel meldet sich zu Wort und will die ethische Problematik zumindest in dem Fall nicht gelten lassen: dem Computer werde hier einfach beigebracht, voll zu bremsen. (kbe)