Preis für Datenkraken: 20 Jahre Big Brother Awards – die Jubiläumsedition

Bei der Vergabe von Big Brother Awards ist die Jury wieder einmal regierungskritisch: 4 der 7 Awards gehen an die Exekutive. Aber auch Tesla ist dabei.

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20 Jahre Big Brother Award – Die Jubiläumsedition

Coronabedingt dürfen in diesem Jahr jeweils nur 50 Gäste und 50 Helfer teilnehmen.

(Bild: Big Brother Awards)

Lesezeit: 13 Min.
Von
  • Detlef Borchers
Inhaltsverzeichnis

Die Regierung der Bundesrepublik Deutschland, das Innenministerium Brandenburg, die Innenminsterkonferenz des Bundes und der Länder sowie das baden-württembergische Ministerium für Kultus, Jugend und Sport sind Preisträger des Big Brother Awards 2020. Die einen siegten in der Katgorie "Geschichtsvergessenheit", die anderen in der Kategorie "Digitalisierung". Die Bundesregierung schließlich siegte durch Nichtstun und Tolerierung der Nutzung von Ramstein für US-amerikanische Drohnenangriffe.

Bei den Privatunternehmen gab es Auszeichnungen für Tesla, Hennes & Mauritz sowie BrainCo und den Wissenschaftscampus Tübingen als Doppelsieger. Die Preise werden ab sofort im Laufe einer Gala in der Bielefelder Hechelei vergeben, an der coronabedingt jeweils nur 50 Gäste und 50 Helfer teilnehmen dürfen.

Bereits seit dem gestrigen Donnerstag wird nach einem TV-Bericht diskutiert, was die Kameras in den KFZ von Tesla alles können, was sie können dürfen und was nicht. Dafür gibt es heute Abend für Tesla einen ersten Big Brother Award, denn die Jury hat a.) die Tesla-Technik und b.) die Datenschutzhinweise und Allgemeinen Geschäftsbedingungen von Tesla angesehen und für mangelhaft befunden.

Für Hacker ist so ein Elektro-Auto die Spielwiese schlechthin, zum Beispiel mit der Kamera nach hinten, die KFZ-Kennzeichen scannt und erkennt und dann eine Warnung vor einem Verfolger aufs Display schicken kann. Der nächste "Tatort" wird zeigen, wie da die Kommissare versauern. Doch Datenschützer verzweifeln schon vorher, weil sie eine Vielzahl von Daten erhoben wird und jeder Fahrer mit der Nutzung des Wagens damit einverstanden sein muss, dass sie "in Länder außerhalb Ihres Wohnsitzlandes, einschließlich der USA" übertragen werden. Denn wer dem Datentransfer online widerspricht, bekommt die lapidare Antwort, dass ab sofort eine "eingeschränkte Funktionalität" gelte. Was da von den Telematikprotokolldaten, Fernanalysedaten, weiteren Fahrzeugdaten, der Wartungshistorie und den Navigationsdaten gelöscht wird, wird nicht erklärt.

Bedenklich sind nach Ansicht der Jury auch die verschiedenen Kameras, die das Auto im Park- oder Wächtermodus überwachen und aufzeichnen, wenn sich jemand dem Fahrzeug nähert. Ebenso bedenklich soll die Kamera sein, die auf den Fahrer gerichtet ist. Sie soll melden, wenn jemand das Auto verschmutzt oder beschädigt. Mit der Verleihung des Big Brother Awards in der Kategorie "Mobilität" verdeutlicht die Jury das Problem, dass Datenschutz schnell als Technikfeindlichkeit ausgelegt wird: "Wir haben nichts gegen Kfz-Assistenzsysteme, auch nichts gegen halbautomatisiertes Fahren. Dafür sind Sensoren und sogenannte künstliche Intelligenz nötig. Aber diese Daten können und müssen aus Datenschutzsicht weitgehend im Auto bleiben."

Bekanntermaßen sollen die Fahrzeuge von Tesla in Brandenburg gebaut werden. Dieses Bundesland kann sich nun mit einem Big Brother Award in der stets beliebten Kategorie "Behörden und Verwaltung" schmücken, denn das Innenministerium hat mit der Software "Kesy" gegen Datenschutzstandards verstoßen, wie die zuständige Landes-Datenschutzbeauftragte Dagmar Hartge beanstandete. Auch nach dieser Rüge trickste die Behörde weiter und löschte längst nicht alle Daten, sondern verlagerte sie von einem Server auf Magnetbänder, angeblich auf Anweisung der Staatsanwaltschaft.

"Kesy" selbst ist eine Software für die "anlassbezogene automatische Kennzeichenfahndung", wie sie das brandenburgische Polizeigesetz gestattet. Sie wurde indes nicht anlassbezogen im Fahndungsmodus betrieben, bei dem gezielt ein Fahrzeug gesucht wird, sondern in einem Aufzeichnungsmodus, bei dem alle Kennzeichen gespeichert werden. Diese Vorratsdatenspeicherung für die Bewegungsdaten von Autos kam im Fall eines vermissten Mädchens heraus, weil ein KFZ eines zunächst Verdächtigen von "Kesy" vor der eigentlichen Fahndung ermittelt werden konnte und die Berliner Polizei davon erzählte.

Die Brandenburger Kollegen waren nicht erbaut, dass die Nutzung des Aufzeichnungsmodus bekannt wurde. Der Preis für diese absichtsvolle Datenpanne geht damit an den Brandenburger Innenminister Michael Stübgen (CDU) der diese Auszeichnung sicher nicht verstehen wird: Stübgen hatte die Nutzung des Aufzeichnungsmodus mit dem Argument verteidigt, dass die Abschaltung nur Verbrecher freuen würde. Was insgesamt mit "Kesy" passiert, entscheidet das Verfassungsgericht von Brandenburg. Ein Autofahrer klagt gegen die Nutzung des Aufzeichnungsmodus.

Ist das Aufzeichnen von KFZ-Kennzeichen eine einfache Sache, ist das Aufzeichnen von Gehirnaktivitäten mit Hilfe der Elektroenzephalografie (EEG) schon wesentlich komplizierter. Nun hat die amerikanisch-chinesische Firma BrainCo einfach zu tragende Stirnbänder namens Focus EDU entwickelt, mit deren Hilfe die Aufmerksamkeit von Schülern beim Unterricht gemessen werden soll. Die Fokussierung auf den Lernstoff wird gespeichert und übertragen, auf dass das Lehrpersonal weiß, wer mitmacht oder anderen Gedanken nachhängt. Jedenfalls in China, wo das Focus EDU laut Werbevideo bereits in Schulen getestet wurde.

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Abgesehen von Zweifeln an der Zuverlässigkeit der Stirnbänder bekommt BrainCo einen Big Brother Award in der Kategorie "Bildung", weil mit der Technik das schulische Lernen zur Dressur ausartet, so die Jury. "Ich muss ganz konzentriert sein, sonst werde ich ertappt, denn es wird alles aufgezeichnet." Die Argumentation, das Lehrer so sehen können, ob alle Schüler beim Unterricht mitkommen, sei vorgeschoben.

Doch warum nach China schauen, wenn auch in Deutschland solche Technologien im Einsatz sind? Hier verweist die Jury auf die Forschungen über Cognitive Interfaces, die auf dem Leibniz WissenschaftsCampus in Tübingen durchgeführt werden. Die Tübinger Analyse der Aufmerksamkeit im Klassenzimmer arbeitet mit EEG und Eyetrackung und soll unerfahrenen Lehrkräften helfen, den Aufmerksamkeitsfokus einer Klasse einzuschätzen.

Das hält die Jury für ein vorgeschobenes Argument wie die Versuche, mittels Eytracking festzustellen, ob eine Aufgabe zu schwierig oder zu leicht war. Dramatisch heißt es: "So können die Begriffsstutzigen mit den Mittelmäßigen und den Überfliegern in einem Raum sitzen – aber nicht mehr so, dass sie voneinander lernen, sondern alle in Einzelhaft vor ihrem Computer." Klar, dass es dafür einen Big Brother Award gibt.

Zum zweiten Mal in der 20-jährigen Geschichte des deutschen Big Brother Awards kassiert eine Regierung den Preis der Datenschützer. Nachdem 2003 die US-amerikanische Regierung für das Speichern von Flugpassagierdaten den Negativpreis bekam, ist es diesmal die Bundesregierung, geführt von CDU/CSU und SPD, die einen Preis in der Kategorie "Politik" bekommt. Dies deshalb, weil die Bundesregierung duldet, dass die US-Regierung auf ihrer Flugbasis Ramstein ein Relais betreibt, über das Drohnen in Afghanistan oder Yemen über 6 Millionen Flugstunden absolvieren konnten, während mit ihnen gezielte Tötungen durchgeführt wurden.

Nach Ansicht der Jury trage die Bundesregierung die "rechtliche und politische Mitverantwortung, weil sie nichts gegen dieses mörderische Treiben auf deutschem Staatsgebiet unternimmt." Dabei verweist die Jury in ihrer Begründung auf ein Urteil des Oberverwaltungsgerichts Münster, das die Regierung Sorge tragen müsse, dass von Ramstein aus keine völkerrechtswirdigen Angriffe mit Kampfdrohnen erfolgen. Weil die Datenleitungen und Satellitenverbindungen in Ramstein auch nach dem geplanten Abzug von US-Streitkräften erhalten blieben und weiterhin genutzt würden, sei mehr als ein Verstoß gegen den Datenschutz. "Dass die zuständigen Staatsorgane bisher beharrlich untätig bleiben, ist nicht nachvollziehbar und dürfte an Verfassungsbruch grenzen."

Den Big Brother Award in der Kategorie "Digitalisierung" erhält das baden-württembergische Ministerium für Kultus, Jugend uns Sport, vertreten durch die Minisiterin Susannne Eisenmann (CDU) für die geplante Einführung von Microsoft-365 als Bildungsplattform für Schüler und Lehrer. Microsoft 365 soll an Schulen eingeführt werden, obwohl man während des Lockdowns mit der freien Software Moodle und BigBueButton beste Erfahrungen gemacht hat. Das Thema, dass auch in der aktuellen c´t 20/2020 behandelt ("Mit aller Macht", S. 16f) und ausführlich dokumentiert wird, hat einige Brisanz.

So hat das Ministerium die Unternehmensberatung Pricewaterhouse Coopers (PWC) mit einer Datenschutz-Folgenabschätzung im Fall der Nutzung von Microsoft-Komponenten beauftragt, die nicht öffentlich zugänglich ist – in einem grün-schwarz regierten Bundesland, das großen Wert auf Bürgerbeteiligung legt. Im Gutachten kommen die Juristen von PWC zum Schluss, dass es nur mittelschwere Risiken beim Einsatz von Microsoft 365 geben, die gemindert werden könnten, indem die Daten in einer deutschen Cloud gespeichert würden. Daran zweifelt der Landesdatenschuztbeaufragte, aber auch manche Eltern, die auf die aktuelle Diskussion über Microsoft 365 verweisen.

Dementsprechend gibt es eine Bürgerinitiative, die sich für den Datenschutz und die Datensicherheit der Bildungsplattform stark macht. Auch die Vorgeschichte der Richtungsentscheidung für Microsoft ist wichtig, hat doch das Land mit der eigens in Auftrag gegebenen Bildungsplattform "ella" Schiffbruch erlitten, wie ein Gutachten des Landesrechnungshofes (PDF-Datei) zeigt. Insgesamt will Kultusministerin Eisenmann für die neue Bildungsplattform 24 Millionen Euro ausgeben und sich mit der Entscheidung für höhere Aufgaben empfehlen.

Sie will bei der kommenden Landtagswahl als Spitzenkandidatin antreten. So ruft ihr die Big Brother-Jury zu: "Investieren Sie dieses Geld in die Anpassung freier Software für Ihre Belange! Bauen Sie Know-How auf! Rüsten Sie Server-Systeme und Speicherplatz auf, so wie Sie es beim Moodle-Einsatz zu Beginn der Corona-Krise getan haben. Vom so investierten öffentlichen Geld profitieren dann nämlich auch andere."

Einen klassischer Fall von überbordender, illegaler Datenspeicherung wurde Ende 2019 bekannt, als ein Bericht über eine Computerdatei erschien, die bei Hennes & Mauritz erstellt wurde. In dieser Datei wurden private Details der Beschäftigten eines H&M-Callcenters gespeichert, die Führungskräfte nach sogenannten Welcome-Back-Gesprächen in freundlicher Atmosphäre bei längerer Abwesenheit in Erfahrung brachten. In der Datei wurden Details über das Liebesleben der Mitarbeiter, über Krankheitsverläufe, Todesfälle oder andere Probleme in der privaten Lebensführung gespeichert.

Die Sache flog auf, weil die Datei unzureichend gesichert war und im internen Netz von Hennes & Mauritz auftauchte. Konsequenzen für die ausschnüffelnden Teamleiter gab es keine, ganz im Gegenteil: Nach einer Selbstanzeige der Firma beim zuständigen Datenschutzbeauftragten und einer Entschuldigung der Firmenleitung gab es eine "Entschädigungszahlung" von 2500 Euro für alle Betroffenen, die auch die Teamleiter erhielten. Immerhin konnte nach dem Vorfall ein Betriebsrat in der Firma gegründet werden. Die ganze Aktion wird nun mit einem wertvollen Big Brother Award aus Bielefeld gekrönt, vergeben in der Kategorie "Arbeitswelt".

Zum 20. Jubiläum der Big Brother Awards kann man sich an den Start der Preisvergabe im Jahr 2000 erinnern, als im Ulmenwall-Bunker zu Bielefeld rund 50 Fans des Vereins zur Förderung des öffentlichen bewegten und unbewegten Datenverkehrs (FoeBuD) zusammenfanden. Damals referenzierten die Redner:innen auf 1984 und Orwell und auf die Proteste gegen die Volkszählung, die zum Volkszählungsurteil von 1983 führten, in dem die informationelle Selbstbestimmung erstmals festgeschrieben wurde. Auf dieser "informationellen Selbstbestimmung", eine sprachliche Erfindung des Informatikers Wilhelm Steinmüller (von dem auch die "Vorratsdatenspeicherung" stammt) ruhen weite Teile des deutschen Datenschutzrechtes.

Man kann aber noch weiter zurück gehen und findet dann im Jahre 1969 eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes zum Mikrozensus, in der es zu einer einheitlichen, lebenslangen Personen-Kennziffer heißt: "Mit der Menschenwürde wäre es nicht zu vereinbaren, wenn der Staat das Recht für sich in Anspruch nehmen könnte, den Menschen zwangsweise in seiner ganzen Persönlichkeit zu registrieren und zu katalogisieren, sei es auch in der Anonymität einer statistischen Erhebung, und ihn damit wie eine Sache zu behandeln, die einer Bestandsaufnahme in jeder Beziehung zugänglich ist. Ein solches Eindringen in den Persönlichkeitsbereich durch eine umfassende Einsichtnahme in die persönlichen Verhältnisse seiner Bürger ist dem Staat auch deshalb versagt, weil dem Einzelnen um der freien und selbstverantwortlichen Entfaltung seiner Persönlichkeit willen ein "Innenraum" verbleiben muß, in dem er "sich selbst besitzt" und "in den er sich zurückziehen kann, zu dem die Umwelt keinen Zutritt hat, in dem man in Ruhe gelassen wird und ein Recht auf Einsamkeit genießt."

Mit dieser Formulierung wurde eine lebenslang gültige Kennziffer in der BRD abgelehnt, die in der DDR nahezu gleichzeitig als Personenkennzahl eingeführt wurde. Damit springen wir ins das Jahr 2007 als der damals verantwortliche Finanzminister Peer Steinbrück einen Big Brother Award für die Einführung der Steuer-ID kassierte: In Bielefeld warnte man vor dem Missbrauch dieser lebenslang gültigen Nummer.

Heute ist sie der Dreh- und Angelpunkt der sogenannten Registermodernisierung. Sie soll nach dem Willen von Bundesinnenminister Seehofer den Sockel zur einheitlichen Bürgernummer bilden, was Datenschützer bereits heftig kritisiert haben. Weil Seehofer solch einen tiefgreifenden Eingriff nicht allein durchsetzen kann, wird 2020 die gesamte Innenministerkonferenz als beschlussfassendes Gremium für diese Überwachungsmaßnahme mit einem Big Brother Award geehrt. Wer hat, dem wird gegeben.

Ob im nächsten Jahr wieder Big Brother Awards vergeben werden können, steht derzeit in den Sternen. Die Verleihungs-Gala, mit der in anderen Zeiten über den Ticketverkauf die Kosten für die Arbeit der Jury eingespielt wurden, ist diesmal erheblich geschrumpft. Digitalcourage bittet dringlicher denn je um Spenden für die Big Brother Awards.

(bme)