"The Sandman" auf Netflix: vom Kult-Comic zur Erfolgsserie

Der Kult-Comic ist nun eine Netflix-Serie. Die versucht, das seinerzeit revolutionäre Material in eine zeitgemäße Form zu bringen, ohne dessen Seele zu opfern.

In Pocket speichern vorlesen Druckansicht 144 Kommentare lesen

(Bild: Netflix)

Lesezeit: 11 Min.
Von
  • Gerald Himmelein
Inhaltsverzeichnis

Lange galt das von Neil Gaiman geschriebene Comic-Epos "The Sandman" als unverfilmbar. 1989 erschien das erste Heft – eine überraschend reife Horror/Fantasy-Erzählung mit einer faszinierenden Mythologie, die weitgehend auf eigenen Beinen stand. The Sandman war ein wesentlicher Katalysator dafür, dass Comics das Ghetto der Schmuddelheftchen hinter sich ließen und ernstgenommen wurden.

Zentrale Figur war der ewige Herrscher über die Traumwelt und die Personifizierung der Träume, "Dream" (eben auch: "Sandman" oder "Morpheus"). So konnte die Handlung problemlos durch die Jahrhunderte springen, aus der Realwelt in Fantasiewelten und wieder zurück. Selbst Abstecher in die Hölle gehörten zum Programm. Das Ganze wird mit viel Fantasie und Grusel erzählt, einer Prise britischem Humor und vielen, vielen beeindruckenden Bildern.

Empfohlener redaktioneller Inhalt

Mit Ihrer Zustimmmung wird hier ein externes YouTube-Video (Google Ireland Limited) geladen.

Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen (Google Ireland Limited) übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung.

Bis 1996 erschienen insgesamt 75 Hefte, die später zu zehn Sammelbänden gebündelt wurden. Im Laufe der Jahrzehnte entstand eine robuste "Sandman"-Franchise mit Prequel-Comics, Spin-offs, zahlreichen Neuauflagen, Audiobook-Adaptionen und natürlich Merchandise bis zum Abwinken.

Was sich in den 32 Jahren seit dem ersten Heft hingegen nicht materialisierte, war eine Umsetzung in Bewegtbildern. Immer wieder wurden Verfilmungen in Angriff genommen, die aber stets in der Planungsphase stecken blieben.

Zwischenzeitlich wurden zwei andere Gaiman-Werke erfolgreich zu Fernsehserien: "American Gods" (2017) und "Good Omens" (2019). Jetzt sollte auch Sandman in Serie gehen. Da die Figur der Warner-Tochter DC Comics gehört, schloss Warner Bros. Television einen Deal mit Netflix. Und so erschien am 5. August weltweit die erste Staffel von "The Sandman": zehn Folgen stark, insgesamt 8:05 Stunden mit Logos und Abspännen.

Bevor diese Rezension in die Tiefen der Serie eintaucht, sei erst einmal die wichtigste Frage beantwortet: Macht "Sandman" Spaß? Die Antwort: Erfreulich oft. Aber nicht immer – mal mit Absicht, mal nicht.

Ausgangspunkt von "The Sandman" ist, dass es parallel zur Wachwelt eine Traumwelt gibt. Über dieses Reich der Träume herrscht Morpheus, auch "Dream" genannt. Dieser wird im Jahr 1916 von einem machtbesessenen Okkultisten in einem Bannkreis gefangen. Der Fiesling stiehlt dem Sandman auch die Werkzeuge seines Amtes: einen Helm, einen Beutel mit Traumsand und einen Rubin.

Weder Morpheus noch der Fiesling sind mit der Gesamtsituation zufrieden. Eigentlich wollte der Okkultist den Tod fangen. Stattdessen sitzt ein nackter, bleicher Herr der Träume in einem gläsernen Gefängnis im Keller und schweigt eisig alle Verhandlungsversuche tot.

Erst 2021 entkommt Dream dem Gefängnis – als einer der Bewacher während der Arbeit vom Strandurlaub auf Mallorca träumt. Liest sich albern, ist aber toll anzusehen.

In den 105 Jahren seiner Gefangenschaft hat sich nicht nur die Wachwelt verändert: Die Traumwelt und deren zentraler Palast sind in Abwesenheit ihres Herrschers verfallen, die ihm untergebenen Träume und Albträume größtenteils ausgebüxt.

So handeln die nächsten vier Folgen von "The Sandman" davon, wie Morpheus nacheinander seine Artefakte zurückerobert: in einer heruntergekommenen Wohnung, in den Tiefen der Hölle und über den Umweg eines US-amerikanischen 24-Stunden-Diners.

"The Sandman" (6 Bilder)

Zum Anfang hin fährt The Sandman die Gruselkrallen eher zögerlich aus.
(Bild: Netflix)

Nachdem das Gröbste gerade gerichtet ist, besucht Dream seine Schwester bei der Arbeit – sie ist der personifizierte Tod. Denn Morpheus ist einer der sieben "Ewigen", die seit Anbeginn des Universums bestehen. Im Englischen fangen ihre Namen alle mit "D" an: Destiny, Death, Desire, Despair, Delirium ... und einer, dessen Name ungenannt bleibt.

In der zweiten Hälfte der Staffel stellt sich Dream einer Bedrohung, deren Existenz sowohl die Wach- als auch Traumwelt gefährdet. Insgesamt adaptiert die erste Staffel damit die ersten beiden Handlungsbögen der Comics ("Präludien und Notturni", "Das Puppenhaus").

Die Staffel teilt sich in zehn Kapitel mit drei Abschnitten. Die ersten fünf Folgen verfolgen zwei parallele Handlungsstränge: Die A-Story handelt von der Gefangennahme des Sandman und wie er nach seiner Befreiung seine Artefakte zurückerobert. Die B-Story zeigt den Werdegang einer Nebenfigur. Die sechste Folge besteht aus zwei abgeschlossenen Geschichten. Folge 7 bis 10 führen dann die B-Story aus der ersten Staffelhälfte mit einer neuen Geschichte zusammen und bringen sie gemeinsam zum Abschluss.

Diese relativ konventionelle Erzählform ist zugleich eine Stärke und Schwäche der Serie. Eine Stärke, weil sie neuen Zuschauern den Zugang in die mitunter doch sehr wilde Sandman-Welt erleichtert. Eine Schwäche, weil die Drehbücher die in der Comic-Vorlage sehr unkonventionell erzählte Handlung in eine Form pressen, die ihr nicht immer guttut.

Wer nach dem ganzen Hype einen noch nie zuvor gesehenen Horror-Fantasy-Hybriden erwartet hat, den wird die Wiedererkennung vieler Serien-Konventionen womöglich enttäuschen. Vom Binging der ganzen Serie am Stück sei hier abgeraten: Nach mehr als zwei Folgen in Folge beginnt die visuelle Pracht, sich gegenseitig zu zerschlagen.

Schon immer war klar, dass es "The Sandman" nie allen Fans recht machen würde. Schon die ersten Casting-Entscheidungen wurden auf Facebook und Twitter teils höflich beklatscht, teils lauthals beschimpft.

Kennt man die Vorlage nicht, fallen bei der Umsetzung keine offensichtlichen Schwachstellen auf. Traum- und Wachwelt sind wunderschön anzusehen, von alten englischen Anwesen bis hin zum opulenten Palast der Träume.

Die Schauspieler machen ihre Sache teils gut, teils hervorragend. Nur wenige Ausnahmen überzeugen nicht so ganz – darunter Jenna Coleman, die als Johanna Constantine zwar viele Flüche austeilt, dabei aber wirkt, als ob sie sich gleich wieder dafür entschuldigen wollte. Am anderen Ende der Skala wirkt Charles Dance als Roderick Burgess viel zu kompetent, um in seinem Verlies versehentlich den Falschen einzusperren.

Das Production Design ist grandios, jedes Kostüm passt perfekt zur Figur. Die Special Effects sind mehr als annehmbar, wenn auch nicht immer zu 100 Prozent gelungen. Gelegentlich drängt sich das Digitale störend in den Vordergrund, etwa wenn die "Kamera" durch die Windschutzscheibe eines Autos fliegt.

Eine zunächst kurios wirkende Entscheidung betrifft die Optik der Serie: Immer wieder ist das Bild an den Rändern deutlich abgedunkelt, Gesichter werden unnatürlich in die Länge gezogen und der untere Bildrand erscheint unscharf.

Einst waren derartige Unregelmäßigkeiten bei Weitwinkellinsen unausweichlich, bei einer aktuellen Produktion befremden sie eher. Inzwischen hat Netflix gegenüber Variety offiziell bestätigt, dass diese Verzerrungen Absicht sind und den Traumaspekt betonen sollen.

Der TV-Serie ist deutlich anzumerken, dass hier Fans am Werk waren – oder zumindest Leute, die den Erwartungen der langjährigen Fans gerecht werden wollen. Dennoch hält "The Sandman" dem Vergleich zur Vorlage nicht immer stand.

Stellenweise orientiert sich das Drehbuch sklavisch an den Comics: Dialogzeile für Dialogzeile, Einstellung für Einstellung. Kleine Anpassungen sind unausweichlich: Textboxen werden zu Monologen, einige Sätze werden dem dramaturgischen Fluss zuliebe von anderen Figuren ausgesprochen.

Es gibt aber auch größere Abweichungen: Der "Korinther" tritt weitaus früher in Erscheinung als in den Comics – und verliert dadurch einiges an Effektivität. Dass Folge 5 dem Horror des zugrunde liegenden Comic-Zweiteilers (Hefte 6 und 7) nur im Ansatz gerecht wird, ist zugleich Fluch und Segen: Was schon auf dem Papier abscheulich wirkt, wäre als Bewegtbilder einem breiteren Publikum wohl kaum zumutbar.

Diverse Comic-Figuren wurden 1:1 übernommen, darunter die mythischen Brüder Kain und Abel, der sarkastische Rabe Matthew und der großzügige Untermieter Gilbert. Bei anderen wurde verlustfrei das Geschlecht gedreht: Die Bibliothekarin Lucienne ist im Comic ein Mann mit fliehendem Kopfhaar, John Constantine wurde aus lizenzrechtlichen Gründen in der Serie zur Johanna.

Die Charaktere in "The Sandman" (8 Bilder)

Die etwas verzerrten Bildern mit abgedunkelten Rändern und Unschärfe unten sind Absicht.
(Bild: Netflix)

Auch dass die im Comic blonde Rose Walker in der Serie schwarze Hautfarbe trägt, sollte niemanden stören – Gaiman entwarf die Figur in den späten Achtzigern, als PoC in Comics noch Exoten waren. Eine weitere positive Überraschung ist Gwendoline Christie, die als weiblicher Luzifer mühelos jede Nuance der Figur trifft.

Einige Fans soll es vor den Kopf gestoßen haben, dass das ikonische bleichhäutige Goth-Girl "Death" aus den Comics in der Serie eine moderne schwarze Frau mit Wuschellocken ist. Zehn Minuten mit der TV-Version zerstreuen jedoch alle Zweifel an der Legitimität dieser Anpassung. Ein Geniestreich ist die Besetzung von "Desire" – die Figur ist schon im Comic als nichtbinär definiert, was Mason Alexander Park für die Serie perfekt umsetzt.

Bleibt "Dream", die Hauptrolle. In Gefangenschaft überzeugt Tom Sturridge voll und ganz – eine hagere, unnahbare Figur, die über Wächter 105 Jahre lang dasitzt und stumm grollt. Nach seiner Befreiung blickt der Sandman jedoch aus feuchten Augen, lächelt verhalten, spricht hörbar verletzt – eher ein Emo als der ewige Herr der Traumwelten.

Böse Zungen haben sogar Vergleiche mit Edward Cullen aus den Twilight-Filmen gezogen – ganz so schlimm ist es aber nicht. Letztlich ist der Sandman eine undankbare Rolle: Die Comics entblättern seinen Charakter erst nach und nach; in der Serie muss er gleich die Einleitung sprechen. Dennoch bleibt das Gefühl einer vertanen Chance – ob das am Schauspieler liegt oder an der Regie, ist hierbei schwer zu sagen.

Für diesen Sandman-Leser der ersten Stunde stellte sich irgendwann der ernüchternde Eindruck ein, dass die Serie trotz aller redlichen Bemühungen ein Schatten ihrer Vorlage bleibt. Zu häufig greift die Fernsehfassung auf abgestandene Konventionen zurück, wo der Comic mit jeder Seite aufregendes Neuland betrat.

Das lässt sich nur teilweise damit entschuldigen, dass der Comic selbst gealtert ist. Der einstige Vorreiter des Genres wirkt heute mitunter etwas zu wortlastig; viele der damaligen stilistischen Revolutionen waren inzwischen schon mehrfach in anderen Werken zu sehen. Für die Serie hätte die Herausforderung darin bestanden, nicht aus der Vorlage übernommene Handlungselemente durch vom Gewicht her gleichwertige Neuerungen zu ersetzen. Ein paar Anpassungen der Geschlechter und Hautfarben reichen da nicht aus.

Die letzten Minuten der ersten Staffel beschäftigen sich damit, eine Brücke zur zweiten Staffel zu bauen: Zwei dunkle Gestalten beschließen getrennt voneinander, Morpheus das unendliche Leben schwer zu machen – stille Tage in Klischee. Ein hässlicher Misston am Ende, der dem Geschehen ohne Not einen sauberen Abschluss raubt.

Ob es tatsächlich eine zweite Staffel geben wird, ist aktuell noch offen. Dem Twitter-Konto von Neil Gaiman zufolge war The Sandman am Wochenende in 89 Ländern die meistgesehene Serie. In einem Interview hat Produzent David S. Goyer erklärt, die Drehbücher zur zweiten Staffel seien schon in Arbeit. Es bleibt jedoch abzuwarten, ob die aktuelle Begeisterung lang genug anhält, damit der Traum der zweiten Staffel den Weg in die Wachwelt schafft.

(mho)